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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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… und wütet der Böse

Vic­tor Klem­pe­rer, Tage­buch­ein­trag. Diens­tag, 11. Febru­ar 1936: »Die Lage immer dunk­ler. In Davos hat ein jüdi­scher Stu­dent den deut­schen Par­tei­agen­ten der NSDAP erschos­sen. Im Augen­blick, da hier das Olym­pia­spiel statt­fin­det, wird alles tot­ge­schwie­gen. Hin­ter­her wird man sich an die Gei­seln, an die deut­schen Juden halten.«

Schon für Mor­gen­sterns »Palm­ström« war die Sache klar. Das Gesche­he­ne war nicht gesche­hen, weil, so schloss er »mes­ser­scharf, nicht sein kann, was nicht sein darf«.

Genau­so ver­hal­ten sich 1936 die natio­nal­so­zia­li­sti­schen Macht­ha­ber, als »inmit­ten der Olym­pia­be­gei­ste­rung, die ganz Ber­lin erfasst hat«, im Olym­pi­schen Dorf weni­ge Tage vor Beginn der vom 1. bis zum 16. August statt­fin­den­den Spie­le ein Funk­tio­när aus der US-Dele­ga­ti­on im Zen­tra­len Spei­sen­haus beim Mit­tag­essen tot zusam­men­bricht. Ursa­che ist aller­dings nicht das rasch atte­stier­te Herz­ver­sa­gen, son­dern, wie spä­ter im Kran­ken­haus West­end ein SS-Mann im Arzt­kit­tel dar­legt, das im Blut fest­ge­stell­te »Digi­ta­lis in immens hoher Kon­zen­tra­ti­on«. Offi­zi­el­le Dar­stel­lung der Todes­ur­sa­che bleibt jedoch der Herzinfarkt.

Der Sicher­heits­dienst (SD) des Reichs­füh­rers SS über­nimmt den Fall. Für den lei­ten­den Ober­sturm­bann­füh­rer Tor­now ist die Sache klar: »Da sind Fein­de der natio­nal­so­zia­li­sti­schen Regie­rung am Werk, die uns die Spie­le nei­den und sie mit allen Mit­teln sabo­tie­ren. (Ihnen) ist jedes Mit­tel recht, unser Land zu dis­kre­di­tie­ren, ganz gleich, ob Kom­mu­ni­sten, Juden oder Plu­to­kra­ten …« Obwohl beim preu­ßi­schen Kri­mi­nal­amt ange­stellt, wird Kri­mi­nal­ober­kom­mis­sar Gere­on Rath mit der Auf­klä­rung beauf­tragt und zur Kri­mi­nal­wa­che im Olym­pi­schen Dorf ver­setzt. Er soll »den Schul­di­gen brin­gen, bevor er noch mehr Unheil anrich­tet«. Und dabei kei­ner­lei Auf­se­hen erregen.

Wir befin­den uns im ach­ten Rath-Roman des Schrift­stel­lers Vol­ker Kut­scher, »Olym­pia«, am 2. Novem­ber erschie­nen. Ein furio­ser Page­tur­ner; wie immer akri­bisch auf­be­rei­tet und recher­chiert. Ich habe ihn zwei Aben­de lang nicht aus der Hand gelegt, dann war ich durch (für Band 7, »Mar­low«, sie­he Ossietzky 24/​2018, »Am brau­nen Strand der Spree«).

Erst vor kur­zem hat sich die drit­te Staf­fel des mul­ti­me­dia­len Spek­ta­kels »Baby­lon Ber­lin« aus dem lau­fen­den ARD-Pro­gramm ver­ab­schie­det, die auf Gere­on Raths zwei­tem Fall beruht (»Der stum­me Tod«) und im Jahr 1929 spielt. Jetzt ist die Hand­lung sie­ben Jah­re wei­ter­ge­rückt, und die Natio­nal­so­zia­li­sten haben ihre Macht konsolidiert.

Das bekom­men alle Per­so­nen zu spü­ren, die unter den Ein­fluss oder ins Räder­werk der dunk­len Herr­scher gera­ten. Kut­scher zieht die Stell­schrau­ben an, und dies vor rea­lem Hin­ter­grund und histo­ri­schen Abläu­fen. Gere­on Rath sucht noch immer sei­ne Rol­le zwi­schen dem rich­ti­gen Weg und dem leich­ten, ist irri­tiert von dem »Gemen­ge« aus SS, Staats­po­li­zei und Kri­mi­nal­po­li­zei, wird zum »Spiel­ball in der Hand des SD«, wie ihm sei­ne Frau Char­lot­te vor­hält. Und den­noch: Wenn er »die vie­len Tou­ri­sten aus aller Her­ren Län­der sah, die um ihn her­um­sa­ßen und unbe­schwert mit­ein­an­der plau­der­ten und die sport­li­chen Ereig­nis­se des Tages bere­de­ten, als gebe es nichts Wich­ti­ge­res auf der Welt, dann kam ihm das Land, in dem er leb­te, unge­heu­er falsch und ver­lo­gen vor. Alles Fas­sa­de, und er war einer von denen, die dafür sorg­ten, dass die­se Fas­sa­de auf­recht­erhal­ten wurde.«

Um ihn her­um »brummt« die Stadt. Olym­pia­fah­nen wett­ei­fern mit rie­si­gen Haken­kreuz­fah­nen um die Gunst des Win­des. »Über­all Men­schen in Som­mer­klei­dung … Stim­men aller Her­ren Län­der rede­ten durcheinander.«

Selbst Ober­sturm­bann­füh­rer Tor­now ist zufrie­den: »Die Spie­le … waren ein vol­ler Erfolg für das natio­nal­so­zia­li­sti­sche Deutsch­land. Und das soll­ten sie gefäl­ligst auch blei­ben! Sie hat­ten alles dafür getan, sie hat­ten die Ber­li­ner Zigeu­ner an den Stadt­rand ver­frach­tet, sie hat­ten Strei­chers däm­li­ches Hetz­blatt aus den Stür­mer­kä­sten genom­men, sie hat­ten Schil­der abge­schraubt, die Juden den Zutritt zu einem Park oder das Benut­zen einer Park­bank ver­bo­ten, sie lie­ßen die Loka­le, in denen Neger­jazz gespielt wur­de, unbehelligt.«

Vic­tor Klem­pe­rer, Don­ners­tag, 13. August 1936: »Die Olym­pia­de geht näch­sten Sonn­tag zu Ende, der Par­tei­tag der NSDAP kün­digt sich an, eine Explo­si­on steht vor der Tür, und es ist natür­lich, daß man sich zuerst gegen die Juden abre­agie­ren wird. So vie­les ist aufgehäuft.«

Es bleibt nicht bei dem einen Mord. Und die The­se von der kom­mu­ni­sti­schen Ver­schwö­rung wird immer halt­lo­ser. Der bis­he­ri­ge Haupt­ver­däch­tig­te, ein Kell­ner, der eben­falls den Zwi­schen­fall im Spei­se­saal beob­ach­tet hat­te, kommt nicht mehr als Täter in Fra­ge. Ihn hat­te noch nicht ein­mal die Mit­glied­schaft in der SA seit 1933 vor Ver­haf­tung und Fol­ter geschützt, war er doch vor­her drei Jah­re Mit­glied im Rot­front­kämp­fer­bund gewe­sen. Als die wei­te­ren Mor­de gescha­hen, war er zusam­men mit ande­ren Inhaf­tier­ten damit beschäf­tigt, das Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger Sach­sen­hau­sen aufzubauen.

Raths Frau Char­ly lebt der­weil in einer Gegen­welt. Sie hat gezwun­ge­ner­ma­ßen den Poli­zei­dienst quit­tiert, weil Frau­en nicht mehr bei der Kri­po arbei­ten dür­fen. Sie ist jetzt in einem pri­va­ten Detek­tiv­bü­ro tätig, das nach und nach zur Flucht­hel­feragen­tur wird, und fühlt sich »wie Sisy­phos, der gera­de am Gip­fel ange­kom­men war und dem Stein hin­ter­her­schau­te«. Dabei kommt sie auf Gedan­ken, »die Gere­on bis­lang nicht zu den­ken gewagt hat­te: Das Land ver­las­sen. Auf Dau­er ins Aus­land gehen.«

Und da ist noch der ehe­ma­li­ge Zieh­sohn Frit­ze, jetzt Pfle­ge­sohn bei einem Abtei­lungs­lei­ter der Reichs­ju­gend­füh­rung. Die­ser hat­te schon bald die von Frit­ze gelieb­ten Bücher Käst­ners ein­kas­siert und statt­des­sen Schrif­ten über den 1930 ermor­de­ten SA-Sturm­füh­rer Horst Wes­sel oder die Hit­ler­ju­gend auf den Nacht­tisch gelegt. Frit­ze gehört zum Jugend­eh­ren­dienst, der zur Betreu­ung im Olym­pi­schen Dorf ein­ge­setzt wur­de. Hier lernt er auch die schwar­zen Olym­pio­ni­ken Jes­se Owens und David Alb­ritton ken­nen, und ein­mal läuft er sogar Hit­lers Lieb­lings­re­gis­seu­rin Leni Rie­fen­stahl bei Film­auf­nah­men quer durch den Set. Fatal für ihn ist, dass er Augen­zeu­ge zwei­er Mor­de wird, die aber, sie­he Palm­ström, nicht sein konn­ten, weil sie nicht sein durf­ten. Er gerät ins Visier der SS und damit in Lebensgefahr.

Ful­mi­nant treibt die Hand­lung ihrem Show­down ent­ge­gen, wie bei »Ver­gil«: »Rings­um herrscht Mord und wütet der Böse.« (Übers. Rudolph Borchardt)

Gere­on Rath muss erken­nen, dass auch er auf der Abschuss­li­ste steht, in wahr­stem Sin­ne des Wor­tes, und so kommt es zu jenen Situa­tio­nen, in denen eigent­lich »nichts mehr geht«, die aber von Kut­scher schlüs­sig auf­ge­löst wer­den – bis auf den Schluss. Mit ihm ist Kut­scher ein veri­ta­bler Cliff­han­ger gelun­gen. Mei­ne Emp­feh­lung in Anbe­tracht der momen­tan geschlos­se­nen Kinos: Machen Sie sich ein paar span­nen­de Stun­den, lesen Sie das Buch.

Vic­tor Klem­pe­rer, Don­ners­tag, 31. Dezem­ber 1936: »Stän­di­ge Ver­ein­sa­mung … sehr gerin­ge (Hoff­nung) auf das Ende des drit­ten Reichs.«

*

Die Fas­zi­na­ti­on der histo­ri­schen Kri­mis Kut­schers ist nach wie vor groß. Bis zum 21. Okto­ber wur­den laut ARD 10,2 Mil­lio­nen Video­ab­ru­fe für »Baby­lon Ber­lin« regi­striert. Rund neun Mil­lio­nen Zuschaue­rin­nen und Zuschau­er haben min­de­stens eine Fol­ge im Ersten gese­hen. Die durch­schnitt­li­che Reich­wei­te der zwölf Fol­gen lag bei 3,342 Mil­lio­nen. Alle drei Staf­feln ste­hen noch bis zum 21. Janu­ar 2021 in der ARD-Media­thek zum Abruf bereit. Die Dreh­ar­bei­ten für die vier­te Staf­fel sol­len im Früh­jahr 2021 in Ber­lin beginnen.

Vol­ker Kut­scher: »Olym­pia«, Piper Ver­lag, 544 Sei­ten, 24 € – Die Tage­buch-ein­tra­gun­gen Vic­tor Klem­pe­rers wur­den dem Band »Ich will Zeug­nis able­gen bis zum letz­ten, Tage­bü­cher 1933-1941« ent­nom­men, und zwar der Lizenz­aus-gabe für die Bücher­gil­de Guten­berg, mit freund­li­cher Geneh­mi­gung des Auf­bau-Ver­la­ges, 1995.