Freipass 6. Es ist der letzte Band in dieser bemerkenswerten Reihe, dieses Mal ganz Günter Grass gewidmet, aus Anlass des 95. Geburtstages, den er am 16. Oktober dieses Jahres hätte feiern können.
Seit dem Frühjahr 2015 erschien im Ch. Links Verlag, Berlin, das Jahrbuch der Günter und Ute Grass Stiftung als »Forum für Literatur, Bildende Kunst und Politik«. Gemeinsam stellte das Stifterehepaar den ersten Band auf der Leipziger Buchmesse vor, vier Wochen später, am 13. April 2015, starb Günter Grass. Ute Grass starb am 24. April 2021 im Alter von 85 Jahren. Die Konzeption für den gerade erschienenen Band konnten das Verlagsteam, die Herausgeber und der Redakteur noch mit ihr abstimmen.
Günter Grass hatte schon 2014 bei der Planung der Reihe »vehement darauf bestanden, dass es neben Beiträgen der literaturwissenschaftlichen Forschung zu seinem Werk stets auch ein essayistisches Schwerpunktthema geben sollte, um wichtigen, aber nur noch wenig beachteten Autorinnen und Autoren ein Podium zu bieten. Außerdem sollten unter der Rubrik ›Zunge zeigen‹ aktuelle politische Themen kontrovers behandelt werden, frei nach dem Motto ›Der Sprache den Freipaß geben, damit sie laufe …‹, wie es in seiner Erzählung Das Treffen in Telgte heißt« (Christoph Links).
Ossietzky hat über die Jahre hinweg die einzelnen Bände und ihre Schwerpunktthemen – zu Irmtraud Morgner, Heinrich Böll, der Revolte von 1968, dem Zeichner Horst Janssen und dem Dichter Paul Celan – vorgestellt, zuletzt in Ausgabe 22/2021 (»Von Kampffischen und guten Freunden«).
Band 6 bündelt noch einmal, was seine Vorgänger auszeichnete. Um es vorwegzusagen: Wer sich für den Schriftsteller, Bildhauer, Maler und Grafiker Günter Grass interessiert, kommt an diesem Band nicht vorbei, auch, weil er mit einem Paukenschlag beginnt.
Erinnern Sie sich an den Grass-Roman Ein weites Feld aus dem Jahr 1995? Theodor Fontane hatte diese Formel dem Vater von Effi Briest, einem konservativen Gutsherrn und Ritterschaftsrat, in den Mund gelegt, Grass hat sie in Anspielung auf Fontane zum Titel seines Buches gemacht: »Wir vom Archiv nannten ihn Fonty«, steht da zu lesen. Hilke Ohsoling ist auch so eine vom Archiv. Von 1995 bis 2015 war sie Sekretärin von Günter Grass, seit 2011 ist sie Geschäftsführerin der Günter und Ute Grass Stiftung, Lübeck. Im Archiv des Grass-Hauses in Lübeck fand sie eine bis dato unbekannte »Legende« des Schriftstellers mit dem Titel Figurenstehen, deren erste handschriftliche Fassung sie abschrieb und die nun im Freipass auf 15 Seiten erstmals veröffentlicht ist.
Grass spielt dabei mit der Vermischung von Zeitebenen, nichts Ungewöhnliches bei ihm. An seinem großen Esstisch versammelt er die frühgotischen Stifterfiguren des Naumburger Doms und ihren Bildhauer sowie die junge Frau, die für die Uta Modell gestanden hat. Später treffen wir sie in der Gegenwart wieder, beim unbeweglichen Figurenstehen, wie wir es von Plätzen und Fußgängerzonen in großen Städten kennen. Die Erzählung endet mit einem Knalleffekt.
Weitere Fundstücke aus anderen Archiven komplettieren diesen Teil, neue Tagebuchnotizen zur Entstehung der Blechtrommel zum Beispiel oder ein bisher unbekanntes Kapitel zu Oskar Matzerath.
Einen weiteren Schwerpunkt bildet das vor 50 Jahren erschienene Tagebuch einer Schnecke, von den Freipass-Herausgebern als »Sprachkunstwerk« gerühmt und von Uwe Schütte (Universität Göttingen) als »Schlüsseltext und Angelpunkt seines Werkes« gedeutet. Grass beschrieb darin – zwar fiktiv, aber den tatsächlichen Ereignissen nachgezeichnet – sein Engagement für die Es-Pe-De und für Willy Brandt von 1969 bis 1972.
Unter den Beiträgen zur Grass-Forschung ist aus politischer Sicht der Text von Friederike Stausberg über das politische Konzept für die Berliner Republik von Interesse, wie es Günter Grass dem designierten Parteivorsitzenden der SPD, Björn Engholm, vorstellte. Engholm, der am 29. Mai 1991 in Bremen mit mehr als 97 Prozent der Delegiertenstimmen zum Parteivorsitzenden gewählt wurde, war am 17. Dezember 1990 vom SPD-Präsidium als Nachfolger von Hans-Jochen Vogel nominiert worden. Schon kurze Zeit später, am zweiten Weihnachtsfeiertag, kam es zu dem informellen Gespräch: »Als engagierter Zeitgenosse suchte der Künstler – um Einfluss auf die Politik zu nehmen – den unmittelbaren Kontakt zu einem politischen Akteur, um ihn zu beraten.«
Mit Björn Engholm stand Grass seit Anfang der 1980er Jahre in gutem, freundschaftlichem Kontakt. Legendär waren die von ihnen über mehr als ein Jahrzehnt zweimal jährlich abgehaltenen Wewelsflether Gespräche, die bundesweite Beachtung fanden. (W. ist eine kleine Gemeinde im Kreis Steinburg in Schleswig-Holstein und liegt an der Stör, die dort in die Elbe fließt.)
Der Gesprächsfahrplan des Schriftstellers ist als Faksimile wiedergegeben. Der Sprechzettel umfasste folgende Politikbereiche: Deutschlandpolitik 1989/1990, Deutschlandpolitik nach der Wende, Asylpolitik, Rot-Grüne Innenpolitik, Außenpolitische Sicherheit, Kulturpolitik. In all diesen Feldern trat Grass als Fordernder auf. Allerdings waren die sozialdemokratischen Handlungsmöglichkeiten eingeschränkt. In Berlin regierte das Kabinett Kohl aus CDU, CSU und FDP, die aus der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl seit der Wiedervereinigung als Sieger hervorgegangen waren. Über die Reaktion Björn Engholms in diesem Gespräch macht der 15 Buchseiten umfassende Text keine Angaben. Vielleicht glich sie ja der Reaktion Wehners, wie sie ein Karikaturist im Jahre 1969 sah, im Freipass neben anderen Karikaturen zu Grass abgedruckt. Unterzeile: G.G. »entwirft gerade eine neue Parteistrategie«. Währenddessen stützt Onkel Herbert Pfeife rauchend den Kopf in die Hand, und über den Häuptern der Beiden sammelt sich dichter Qualm.
Als immer mehr Asylsuchende in Deutschland ankamen, als in der Bevölkerung die ablehnende Stimmung eskalierte, betrieben die Regierungsparteien die Neuregelung des Asylrechts, um die Möglichkeit einzuschränken, sich erfolgreich auf das im Grundgesetz verankerte Recht auf Asyl berufen zu können. Am 6. Dezember 1992 stimmte die Parteiführung der SPD dem Kompromiss zu, im Mai 1993 beschloss der Bundestag die das Grundgesetz ändernde Neuregelung. Da war es schon fünf Monate her, dass Grass sein SPD-Parteibuch unter Protest zurückgegeben hatte. In der vorhergehenden Asyldebatte, die als eine der »schärfsten, polemischsten und folgenreichsten Auseinandersetzungen der deutschen Nachkriegsgeschichte« gilt (Wikipedia), hatte Grass an vorderster Front gestanden.
Grass trat nicht mehr in die SPD ein, blieb den Sozialdemokraten aber verbunden und machte Ende der 1990er Jahre wieder Wahlkampf für die Partei; auch das Verhältnis zu Engholm entkrampfte sich mit der Zeit. Grass war halt auch ein »glücklicher Steinewälzer«, wie die Autorin Friederike Stausberg ihre Dissertation betitelt hat, deren Erscheinen für 2023 avisiert ist und aus der ihr Beitrag für den Freipass stammt. Anspielend auf den Mythos des Sisyphos von Albert Camus und dessen letzten Sätze: »Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen. Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.« Eine Metapher, die auch Björn Engholm 1991 in seiner ersten Rede nach seiner Wahl auf dem Parteitag in Bremen gebrauchte.
Machen wir einen Sprung, werfen wir noch einen Blick auf den abschließenden Teil des Bandes, der Erinnerungen einiger Wegbegleiter und Zeitgenossen zu einem Geburtstags-Bouquet bündelt. Hier erinnert sich die 1922 (!) geborene Bühnenverlegerin Maria Sommer an ihren ersten Kontakt mit dem »in einem Pariser Kellerloch« lebenden jungen Autor, dessen erstes Theaterstück Onkel, Onkel sich gerade auf den Weg zur Uraufführung machte, die alles andere als ein Erfolg wurde. Hans Magnus Enzensberger, Martin Walser, Michael Krüger, Eva Menasse, Uwe Neumann, Christoph Links, Ingo Schulze schließen sich an, ebenso wie Daniela Dahn. Die Mitherausgeberin von Ossietzky beginnt ihren Text mit den Worten: »Günter Grass fehlt. Sein beständiges, die Mächtigen nervendes: Was gesagt werden muss. Mit ihm ist der letzte störende Intellektuelle, der sich noch Gehör verschaffen konnte, abgetreten.«
Dieser Sound durchzieht das ganze Buch: Es ist das letzte seiner Art, da zwei Monate nach Ute Grass’ Tod der Vorstand der Günter und Ute Grass Stiftung beschlossen hat, die Publikationsreihe nicht fortzuführen. Christoph Links hatte vor sieben Jahren den verlegerischen Mut besessen, den Freipass zu verlegen, diese »wunderbare Buchreihe«, die zwar nach seinen Worten »in der Tat kein Verkaufsschlager war«, die jedoch international große Anerkennung fand. Daher gehört ihm auch das letzte Wort: »Nicht nur uns im Verlag wird künftig etwas Wichtiges fehlen.«
Volker Neuhaus, Per Øhrgaard, Jörg-Philipp Thomsa (Hg.): Freipass, Band 6, Ch. Links Verlag, Berlin 2022, 347 S., 25 €.