Die politische Erpressung war ein voller Erfolg: Als Voraussetzung für die Rücknahme seines Vetos gegen die Aufnahme von Schweden und Finnland in die Nato hatte der türkische Präsident Erdogan ein härteres Vorgehen dieser beiden Länder gegen die kurdische Arbeiterpartei PKK sowie verbündete Organisationen und Netzwerke gefordert. Denn diese beiden Länder, so die Begründung, seien »Brutstätten des Terrors«.
Ein trilaterales Memorandum, das am Rande des Nato-Gipfels in Madrid Ende Juni 2022 zustande kam, geht nun auf alle Bedingungen Ankaras ein, um die »legitimen Sicherheitsbedenken der Türkei auszuräumen«: Das 2019 verhängte Waffenembargo Schwedens und Finnlands gegen die Türkei wird im Sinne der »Bündnissolidarität« aufgehoben. Die PKK wird als »Terrororganisation« festgeschrieben, ihre mutmaßlichen Anhänger, Netzwerke und Aktivitäten sollen verschärft verfolgt werden. Und die syrisch-kurdische Selbstverwaltung in Nordsyrien, mitsamt ihrer »Volksverteidigungseinheiten« YPG/PYD, sollen, anders als bislang, künftig keinerlei humanitäre Unterstützung mehr erhalten – also jene kurdischen Einheiten, die mit Unterstützung der USA, Europas und auch Schwedens erfolgreich, aber unter großen Opfern gegen den »IS«-Terror in Nordsyrien gekämpft hatten.
Die relativ liberale Gesetzgebung Schwedens und Finnlands wird also entsprechend geändert und verschärft. Und kurdische Aktivisten, die im schwedischen und finnischen Exil leben und dort als politische Flüchtlinge Schutz vor Verfolgung suchen, sollen künftig, nach beschleunigter Prüfung, leichter an die Türkei ausgeliefert werden können – etwa wegen angeblicher PKK-Kontakte (»Terrorverdacht«). Die Rede ist von über 70 Betroffenen, die nun in Angst und Schrecken leben, weil ihnen Misshandlung, Folter und langjährige Haft drohen.
Über Hunderttausend Kurden, ihre Organisationen und Medien zahlen also insgesamt einen hohen Preis für die Entscheidung Schwedens und Finnlands, angesichts des Ukrainekrieges dem westlichen Militärbündnis Nato beizutreten und damit ihre militärische Neutralität aufzugeben. Doch diese Erpressungsgeschichte fügt sich ein in ein altes Trauerspiel: Denn bereits seit Jahrzehnten setzen sich die EU und auch die Bundesrepublik nicht nur unzureichend von der ausufernden Terrordoktrin des türkischen Staates ab, sie haben sich in diese »Antiterror«-Strategie regelrecht einbinden lassen. Und sie haben sich darüber hinaus auch noch über den milliardenschweren EU-Flüchtlingsdeal (2016) stark von der Türkei abhängig und erpressbar gemacht: ein menschenrechtlich inakzeptables Abkommen, das den EU-Staaten Geflüchtete aus Afrika und Nahost, insbesondere aus Syrien »vom Hals halten« soll. Tatsächlich kooperieren EU und Bundesrepublik schon allzu lange mit der Türkei eng, unkritisch, teils willfährig – gerade bei der Flüchtlingsabwehr sowie im »Antiterrorkampf«. Sie haben letztlich mit ihrer überaus heiklen Militär-, Polizei- und Geheimdienst-Kooperation die kriegerische Kurdenpolitik der Türkei flankiert und abgesichert sowie mit Waffenlieferungen befeuert.
Im türkisch-kurdischen Konflikt beschreiten die EU mit ihrer Terrorliste, auf der die PKK und weitere kurdische Organisationen gelistet sind, und die Bundesrepublik mit ihrem seit 1993 geltenden PKK-Verbot nach wie vor den Weg der Repression, der Kriminalisierung und Ausgrenzung. Und dies auch unter der aktuellen Ampelregierung, obwohl sich doch die einst gewaltorientierte PKK in Europa mitsamt ihren Strukturen, Mitteln und Zielen längst grundlegend geändert hat, obwohl sich auch die politische Situation in Europa und der Türkei sowie im Nahen und Mittleren Osten stark wandelte. Die immer noch vorherrschende Kriminalisierungs- und Ausgrenzungspolitik ist damit vollends zum kontraproduktiven Anachronismus geworden, der eine so dringend nötige friedliche und gerechte Lösung der türkisch-kurdischen Frage schwer behindert. Mit der türkischen Erpressung Schwedens und Finnlands wird diese falsche und grundrechtsgefährdende Politik jedoch noch ausgeweitet und verfestigt.
Am Rande des Nato-Machtbereichs passieren im Übrigen noch ganz andere Angriffsszenarien, die gerne ausgeblendet werden. Tatsächlich fragt man sich verwundert: Wo um alles in der Welt blieben die politischen Antworten und Konsequenzen angesichts des eskalierenden Kriegs gegen die kurdische Bevölkerung in der Türkei, angesichts der politischen Verfolgung Andersdenkender, willkürlicher Inhaftierungen und langjähriger Verurteilungen wegen nebulöser Terrorvorwürfe? Und vor allem: Wo blieben eigentlich angemessene Reaktionen auf die militärischen Angriffe des Nato-Staats Türkei gegen die kurdische Selbstverwaltung in Nordsyrien oder – im Windschatten des Ukrainekriegs – auch gegen kurdische Einheiten im Nordirak und die Autonome Region Kurdistan? Handelt es sich doch um jahrelange völkerrechtwidrige Angriffe auf souveräne Staaten und deren Zivilbevölkerung, wie auch der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages unmissverständlich festgestellt hat: Diese türkischen »Verstöße gegen das Gewaltverbot« der UN-Charta geschehen ohne jede Bedrohungslage, ohne akute Selbstverteidigungssituation, da von kurdischer Seite etwa aus Nord- oder Ost-syrien – anders als die Türkei behauptet – nachweislich keinerlei Gefahr, keinerlei Terrorbedrohung ausgegangen war.
Diese völkerrechtswidrigen Angriffe in einem zermürbenden Krieg gegen die Zivilbevölkerung werden nicht zuletzt mit deutschen Panzern und Waffen geführt und befeuert. Nato, EU und Bundesrepublik tragen jedenfalls Mitverantwortung und Mitschuld an diesen schweren Völkerrechtsbrüchen ihres Nato-Mitgliedsstaates. Doch außer diplomatischer Leisetreterei und der Anerkennung türkischer »Sicherheitsinteressen« in der Region war und ist von dieser Seite nicht viel mehr zu hören. Dennoch gilt: Wer den russischen Krieg gegen die Ukraine als völkerrechtswidrigen Angriffskrieg geißelt, muss auch die Kriegsangriffe der Türkei gegen Syrien und Irak mithilfe dschihadistischer Söldnertruppen, mit tödlichen Drohnen- und Raketenangriffen, Landnahmen (»Sicherheitszone«), hunderttausendfachen Vertreibungen, ethnischen Säuberungen und Zwangsumsiedlung von Flüchtlingen sowie gezielten Umweltzerstörungen klar und unüberhörbar verurteilen – als systematische völkerrechtswidrige An- und Übergriffe eines Nato-Mitglieds auf souveräne Staaten. Alles andere ist zweierlei Maß oder westliche Doppelmoral.
Auf harte Sanktionen gegen die Türkei oder gar Rausschmiss aus der Nato wird man allerdings lange warten, schließlich gibt es handfeste geopolitische Gründe für die Tolerierung und Zurückhaltung von Seiten der Nato und EU. Diese liegen nicht zuletzt in der großen strategischen Bedeutung der Türkei für das westliche Militärbündnis, das sich gerne als »Wertegemeinschaft« versteht: Das Land ist ein geostrategisch gewichtiger Bündnispartner an der Südost-Flanke der Nato, zwischen Europa und Asien, zwischen westlicher Welt und Nahem Osten sowie als Wächter am Schwarzen Meer. Trotz systematischer Menschen- und Völkerrechtsverletzungen wird die Türkei schon allein wegen dieser Schlüsselposition auf Biegen und Brechen in der Nato gehalten – ein Mitgliedsstaat, der nach den USA die zweitgrößte Truppe stellt. Und diese autokratisch regierte Türkei, deren Präsident sich während des Ukraine-Kriegs als Konflikt-Vermittler wichtigmacht, wird militärisch weiter aufgerüstet sowie gehörig mit Finanz- und Kredithilfen unterstützt. Mit dieser Unterstützung begeben sich USA, EU und »westliche Wertegemeinschaft« insgesamt in eklatanten Widerspruch zu ihren eigenen Werten, die sie gegenüber dem Rest der Welt ansonsten unentwegt hochhalten und oft genug selbst erheblich missachten: so etwa mit ihren sanktionslos gebliebenen Völkerrechtsverstößen und Kriegsverbrechen in Jugoslawien, Afghanistan, Irak, Libyen, Guantanamo etc.
Angesichts völkerrechtswidriger Angriffe der Türkei auf Syrien und Irak und dort lebende Kurden, aber auch angesichts umfangreicher Rüstungsexporte und des EU-Flüchtlingsdeals kommen Nato, EU und Deutschland eine gesteigerte Verantwortung zu. Um dieser gerecht zu werden, bedarf es eines radikalen Wandels der europäischen Türkei- und Kurdenpolitik. Und dazu gehört, endlich die Terror-Stigmatisierung, Kriminalisierung, Verfolgung und Ausgrenzung von Kurden, ihren Organisationen und Medien in Europa und Deutschland zu beenden, die einem offenen Dialog mit der kurdischen Seite diametral entgegenstehen. Denn: Die immer noch ungelöste kurdische Frage ist weniger denn je ein Terrorproblem, sondern eine menschenrechtliche und demokratische Herausforderung der Türkei mit weitreichenden Auswirkungen auf Europa, die Nato und die Bundesrepublik. Einstweilen ist zu fordern:
Schutz und Asyl für politisch Verfolgte aus der Türkei: keine Auslieferungen von Kurd:innen, Oppositionellen und Regimekritikern im Exil an die Türkei.
Stopp aller deutschen Rüstungs- und Kriegswaffenexporte an die Türkei, die im Krieg gegen die kurdische Bevölkerung sowohl in der Türkei als auch in Nordsyrien und Nordirak bereits eine verheerende Rolle gespielt haben.
Sofortige internationale Maßnahmen, um die völkerrechtswidrigen Angriffe des Nato-Staats Türkei auf Nordsyrien und Nordirak zu unterbinden, Kriegsverbrechen gerichtlich aufzuklären und zu ahnden sowie die Türkei für Kriegsfolgen und Zerstörungen haftbar zu machen.