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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Treffen in Torgau

Auf dem Weg zum Klas­sen­tref­fen lief ich über den Tor­gau­er Markt und drei Typen mit Esels­mas­ken in die Que­re. Sie tru­gen Pla­ka­te mit Bekennt­nis­sen vor ihren Bäu­chen, die mit der Offen­ba­rung began­nen: »Ich dum­mer Esel …«. Wahl­wei­se glaub­te der dum­me Esel, dass Schutz­imp­fun­gen gegen Coro­na harm­los sei­en, dass die Alt­par­tei­en es gut mit uns mei­nen und dass die AfD eine ech­te Alter­na­ti­ve für Deutsch­land wäre. Da das Kür­zel offen­bar nach­träg­lich auf dem Pla­kat auf­ge­klebt wur­de, muss­te dort schon mal vor einer ande­ren Par­tei gewarnt wor­den sein (eine in öko­lo­gi­scher Hin­sicht immer­hin löb­li­che Zweit­ver­wer­tung). Die drei Esel dreh­ten unbe­ach­tet ihre Run­den auf dem son­nen­über­flu­te­ten Platz vor dem Rat­haus und den ande­ren restau­rier­ten Renais­sance-Bau­wer­ken und mach­ten gele­gent­lich Rast vor einem Par­ty­zelt. Das wur­de von einem hal­ben Dut­zend Poli­zi­sten umstan­den (oder soll­te man sagen: geschützt?). Das Pro­pa­gan­da­zelt in Wer­nes­grün-Grün stand gleich neben einem Spiel­wa­ren­la­den, der seit über 330 Jah­ren exi­stiert und dar­um als der älte­ste nicht nur Deutsch­lands, son­dern der gan­zen Welt gerühmt wird. Der Inha­ber (nun­mehr in elf­ter Gene­ra­ti­on) wird ver­mut­lich von die­ser Annä­he­rung der Esel nichts gewusst haben, und hät­te er es gewusst, wäre es ver­mut­lich nicht zu ver­hin­dern gewe­sen: Die Bäcker­stra­ße, die hier in den Markt mün­det, ist öffent­li­cher Raum und dar­um auch von Idio­ten aller Art missbrauchbar.

Dass aber die Initia­to­ren des Stra­ßen­thea­ters bewusst die Nach­bar­schaft zu der geschichts­träch­ti­gen Ein­rich­tung gesucht haben muss­ten, war zu ver­mu­ten. Die völ­kisch-natio­na­li­sti­schen Losun­gen auf und vor dem Zelt leg­ten den Schluss nahe: »Asy­lan­ten­flut stop­pen!«, »Natio­nal. Revo­lu­tio­när. Sozia­li­stisch«, »Frei­heit statt Coro­na-Impf­zwang«. (Nicht zufäl­lig posier­ten die drei Esel vor eben jenem tra­di­ti­ons­rei­chen – deut­schen! – Spiel­wa­ren­la­den auf einem Foto, das bereits andern­tags im Netz zu sehen sein sollte.)

Ich eil­te kopf­schüt­telnd wei­ter zu mei­ner ehe­ma­li­gen Schu­le, die mei­ner­zeit als Erwei­ter­te Ober­schu­le (EOS) den Namen Ernst Schnel­lers trug. Der kom­mu­ni­sti­sche Reichs­tags­ab­ge­ord­ne­te und Anti­fa­schist war 1944, nach elf Jah­ren Nazi­haft, im KZ Sach­sen­hau­sen ermor­det wor­den. Inzwi­schen heißt das Gym­na­si­um nach Johann Wal­ter, einem Mann der Luthe­ri­schen Refor­ma­ti­on; von ihm, dem Tor­gau­er Kan­tor stammt bei­spiels­wei­se die Musik für das Luther-Lied »Ein feste Burg ist unser Gott«. Die Tür­ken bela­ger­ten damals Wien, das osma­ni­sche Reich dräng­te aggres­siv gen Nor­den. Da brauch­te es musi­ka­li­scher Auf­rü­stung gegen die mus­li­mi­sche Bedro­hung. Die Neo­na­zis auf dem Markt zier­ten sich bei der Abwehr der Frem­den weni­ger musisch und ver­lang­ten direkt und unver­blümt: »Asy­lan­ten­flut stop­pen!« Sie schie­nen in jeder Hin­sicht aus der Zeit und aus dem Main­stream gera­ten und bar von Kennt­nis­sen und Zusammenhängen.

An der Schu­le mit schickem Anbau und fei­nem Anstrich, außen wie innen, begrüß­te uns ein freund­li­cher Schul­lei­ter mit sei­ner Stell­ver­tre­te­rin. Er nann­te noch einen drit­ten Namen, den die Schu­le einst getra­gen hat­te: August von Macken­sen. Der unweit von Tor­gau Gebo­re­ne besuch­te von 1859 bis 1865 das damals staat­li­che Gym­na­si­um, ehe er als Kriegs­frei­wil­li­ger 1871 gen Paris zog. Im Ersten Welt­krieg avan­cier­te der Gene­ral­feld­mar­schall zum Kriegs­ver­bre­cher an der Ost­front und auf dem Bal­kan; er selbst ver­wand­te in sei­nen Erin­ne­run­gen bei der Beschrei­bung sei­ner Schlach­ten in Ost­preu­ßen zu Beginn des Krie­ges die Begrif­fe »Mas­sen­mord« und »Mas­sen­schläch­te­rei«. Dafür wur­de er 1916 Namens­pa­tron der Schu­le in Tor­gau – und das bis 1945. Die Nazis hofier­ten den »Heer­füh­rer« mit dem hand­gro­ßen Toten­kopf an der skur­ri­len Pelz­müt­ze, und der ließ sich gern als Pro­pa­gan­da­werk­zeug instru­men­ta­li­sie­ren. Glei­che Brü­der, glei­che Kappen.

Egon Bahr, der wie ich die­se Schu­le besucht hat­te, was auch der Grund für unse­re nach­ma­li­ge Bezie­hung war, erzähl­te mir von einer Begeg­nung mit die­sem Mili­ta­ri­sten: Er war – inzwi­schen von Tor­gau nach Ber­lin über­ge­sie­delt, weil sein Vater sich von sei­ner jüdi­schen Mut­ter nicht hat­te tren­nen wol­len und in der Anony­mi­tät der Reichs­haupt­stadt Schutz zu fin­den hoff­te – mit sei­ner Klas­se vor die Neue Wache Unter den Lin­den kom­man­diert wor­den. Die Gym­na­sia­sten soll­ten die jubeln­de Kulis­se bil­den für die aus Spa­ni­en zurück­ge­kehr­te Legi­on Con­dor. Dort hat­ten die Sol­da­ten gemein­sam mit spa­ni­schen und ita­lie­ni­schen Faschi­sten die Repu­blik ver­nich­tet und Städ­te wie Guer­ni­ca zer­bombt; die­se Kriegs­ver­bre­chen wer­den noch immer als »Spa­ni­sche Allee« im Westen Ber­lins gleich­sam gerühmt. Das aber nur nebenbei.

Egon Bahr, der im thü­rin­gi­schen Tref­furt gebo­re­ne und aus dem säch­si­schen Tor­gau ver­trie­be­ne Jude, soll­te also im Juni ’39 mit ande­ren in Ber­lin den Jubel­per­ser geben. Und wer schritt da an ihm gra­vi­tä­tisch vor­bei? Eben jener Mas­sen­mör­der Macken­sen, nach dem die vie­le Jah­re von Bahr besuch­te Schu­le benannt wor­den war.

So wäre die Tra­di­ti­on, sag­te der Schul­lei­ter und füg­te stolz hin­zu, dass Egon Bahr Mit­glied des För­der­ver­eins der Schu­le gewe­sen sei und sich bis zu sei­nem Tode sehr für die Vor­gän­ge am Johann-Wal­ter-Gym­na­si­um inter­es­siert habe.

Nun ja, ent­geg­ne­te ich, es gebe aller­dings einen Unter­schied bei den drei über­lie­fer­ten Namens­ge­bern, den man auch deut­lich aus­spre­chen müs­se, damit er nicht unter­ge­he: Weder Johann Wal­ter noch Ernst Schnel­ler kön­ne man den deut­schen Kriegs­ver­bre­chern zurechnen.

Wir hät­ten übri­gens Ende der sech­zi­ger Jah­re in einem FDJ-Sub­bot­nik, also einem frei­wil­li­gen Arbeits­ein­satz, die Wild­nis zwi­schen Schul­ge­bäu­de und Bern­hard-Kel­ler­mann-Hal­le – heu­te eine gepfleg­te Grün­an­la­ge – besei­tigt. Tief unter Brom­beer­ge­strüpp ent­deck­ten wir damals Macken­sens Büste, die ver­mut­lich mal das Foy­er der Schu­le geziert und beim anti­fa­schi­sti­schen Aus­mi­sten dort hin­ten mit ande­rem Müll ent­sorgt wor­den war. Die Natur zeig­te sich gnä­dig und über­zog bin­nen eines Vier­tel­jahr­hun­derts den Schutt­hau­fen der Geschich­te mit Wur­zeln und Blattwerk.

Was ist mit der Büste pas­siert, erkun­dig­te sich der hell­hö­ri­ge Schul­lei­ter. Tja, wenn wir das wüss­ten, zuck­ten alle damals Betei­lig­ten die Schul­tern. Nun war nach mei­ner Erin­ne­rung die stei­ner­ne Abbil­dung des schnauz­bär­ti­gen Natio­na­li­sten und Mili­ta­ri­sten wahr­lich kein Kunst­werk, das der Aus­stel­lung lohn­te. Gleich­wohl gehör­te die­se Büste, so sie denn auf­ge­fun­den und unter histo­ri­schen Aspek­ten auf­ge­stellt wer­den wür­de, zur Geschich­te der Schu­le, dane­ben ein Bild­nis des in Leip­zig gebo­re­nen Anti­fa­schi­sten und Anti­mi­li­ta­ri­sten Ernst Schnel­ler; even­tu­ell der Bron­ze­kopf, den Ernst Loeber in den sieb­zi­ger Jah­ren schuf und der in den neun­zi­ger Jah­ren auf Beschluss der Bezirks­ver­ord­ne­ten­ver­samm­lung Ber­lin-Trep­tow demon­tiert und ins Depot ver­bannt wur­de. Das über­le­bens­gro­ße Bron­ze­por­trät befand sich vorm Kul­tur­haus »Ernst Schnel­ler« auf dem Gelän­de des VEB Ber­li­ner Metall­hüt­ten- und Halb­zeug­wer­ke (BMHW) in der Fließ-, Ecke Flut­stra­ße. Bei­de Ein­rich­tun­gen gibt es nicht mehr. Und der ein­ge­la­ger­te Kopf soll auch ver­schwun­den sein. Wie wei­land die Büste von Macken­sen – eine frag­wür­di­ge Art des Umgangs mit Geschich­te allemal.

Unser Klas­sen­tref­fen fand sei­nen Abschluss in einem sechs­hun­dert Jah­re alten Gebäu­de in der Spi­tal­stra­ße, das auch noch »Deut­sches Haus« hieß. Zur akzep­tier­ten Ent­schul­di­gung tru­gen die Betrei­ber des Pen­si­ons­gast­ho­fes vor, dass man schon seit dem 19. Jahr­hun­dert so hei­ße und kei­nes­wegs einem aktu­el­len Trend fol­ge. Als es bereits dun­kel­te, lief ich über den Markt zurück zu mei­nem Auto. Der brau­ne Spuk hat­te sich inzwi­schen ver­zo­gen. Aller­dings hin­ter­ließ er unterm Schei­ben­wi­scher sei­ne Bot­schaft: »Kon­se­quent wäh­len! Deutsch wäh­len!« Der Absen­der: »Der Drit­te Weg« und ein Post­fach in Bad Dürk­heim. Nicht zu ver­wech­seln mit Bad Düben in der Dübe­ner Hei­de unweit von Tor­gau. Bad Dürk­heim liegt am Ran­de des Pfäl­zer Wal­des in Rheinland-Pfalz.

Und ich Esel glaub­te schon, dass mei­ne Geburts­stadt Tor­gau nun auch hin­über wäre.