Auf dem Weg zum Klassentreffen lief ich über den Torgauer Markt und drei Typen mit Eselsmasken in die Quere. Sie trugen Plakate mit Bekenntnissen vor ihren Bäuchen, die mit der Offenbarung begannen: »Ich dummer Esel …«. Wahlweise glaubte der dumme Esel, dass Schutzimpfungen gegen Corona harmlos seien, dass die Altparteien es gut mit uns meinen und dass die AfD eine echte Alternative für Deutschland wäre. Da das Kürzel offenbar nachträglich auf dem Plakat aufgeklebt wurde, musste dort schon mal vor einer anderen Partei gewarnt worden sein (eine in ökologischer Hinsicht immerhin löbliche Zweitverwertung). Die drei Esel drehten unbeachtet ihre Runden auf dem sonnenüberfluteten Platz vor dem Rathaus und den anderen restaurierten Renaissance-Bauwerken und machten gelegentlich Rast vor einem Partyzelt. Das wurde von einem halben Dutzend Polizisten umstanden (oder sollte man sagen: geschützt?). Das Propagandazelt in Wernesgrün-Grün stand gleich neben einem Spielwarenladen, der seit über 330 Jahren existiert und darum als der älteste nicht nur Deutschlands, sondern der ganzen Welt gerühmt wird. Der Inhaber (nunmehr in elfter Generation) wird vermutlich von dieser Annäherung der Esel nichts gewusst haben, und hätte er es gewusst, wäre es vermutlich nicht zu verhindern gewesen: Die Bäckerstraße, die hier in den Markt mündet, ist öffentlicher Raum und darum auch von Idioten aller Art missbrauchbar.
Dass aber die Initiatoren des Straßentheaters bewusst die Nachbarschaft zu der geschichtsträchtigen Einrichtung gesucht haben mussten, war zu vermuten. Die völkisch-nationalistischen Losungen auf und vor dem Zelt legten den Schluss nahe: »Asylantenflut stoppen!«, »National. Revolutionär. Sozialistisch«, »Freiheit statt Corona-Impfzwang«. (Nicht zufällig posierten die drei Esel vor eben jenem traditionsreichen – deutschen! – Spielwarenladen auf einem Foto, das bereits anderntags im Netz zu sehen sein sollte.)
Ich eilte kopfschüttelnd weiter zu meiner ehemaligen Schule, die meinerzeit als Erweiterte Oberschule (EOS) den Namen Ernst Schnellers trug. Der kommunistische Reichstagsabgeordnete und Antifaschist war 1944, nach elf Jahren Nazihaft, im KZ Sachsenhausen ermordet worden. Inzwischen heißt das Gymnasium nach Johann Walter, einem Mann der Lutherischen Reformation; von ihm, dem Torgauer Kantor stammt beispielsweise die Musik für das Luther-Lied »Ein feste Burg ist unser Gott«. Die Türken belagerten damals Wien, das osmanische Reich drängte aggressiv gen Norden. Da brauchte es musikalischer Aufrüstung gegen die muslimische Bedrohung. Die Neonazis auf dem Markt zierten sich bei der Abwehr der Fremden weniger musisch und verlangten direkt und unverblümt: »Asylantenflut stoppen!« Sie schienen in jeder Hinsicht aus der Zeit und aus dem Mainstream geraten und bar von Kenntnissen und Zusammenhängen.
An der Schule mit schickem Anbau und feinem Anstrich, außen wie innen, begrüßte uns ein freundlicher Schulleiter mit seiner Stellvertreterin. Er nannte noch einen dritten Namen, den die Schule einst getragen hatte: August von Mackensen. Der unweit von Torgau Geborene besuchte von 1859 bis 1865 das damals staatliche Gymnasium, ehe er als Kriegsfreiwilliger 1871 gen Paris zog. Im Ersten Weltkrieg avancierte der Generalfeldmarschall zum Kriegsverbrecher an der Ostfront und auf dem Balkan; er selbst verwandte in seinen Erinnerungen bei der Beschreibung seiner Schlachten in Ostpreußen zu Beginn des Krieges die Begriffe »Massenmord« und »Massenschlächterei«. Dafür wurde er 1916 Namenspatron der Schule in Torgau – und das bis 1945. Die Nazis hofierten den »Heerführer« mit dem handgroßen Totenkopf an der skurrilen Pelzmütze, und der ließ sich gern als Propagandawerkzeug instrumentalisieren. Gleiche Brüder, gleiche Kappen.
Egon Bahr, der wie ich diese Schule besucht hatte, was auch der Grund für unsere nachmalige Beziehung war, erzählte mir von einer Begegnung mit diesem Militaristen: Er war – inzwischen von Torgau nach Berlin übergesiedelt, weil sein Vater sich von seiner jüdischen Mutter nicht hatte trennen wollen und in der Anonymität der Reichshauptstadt Schutz zu finden hoffte – mit seiner Klasse vor die Neue Wache Unter den Linden kommandiert worden. Die Gymnasiasten sollten die jubelnde Kulisse bilden für die aus Spanien zurückgekehrte Legion Condor. Dort hatten die Soldaten gemeinsam mit spanischen und italienischen Faschisten die Republik vernichtet und Städte wie Guernica zerbombt; diese Kriegsverbrechen werden noch immer als »Spanische Allee« im Westen Berlins gleichsam gerühmt. Das aber nur nebenbei.
Egon Bahr, der im thüringischen Treffurt geborene und aus dem sächsischen Torgau vertriebene Jude, sollte also im Juni ’39 mit anderen in Berlin den Jubelperser geben. Und wer schritt da an ihm gravitätisch vorbei? Eben jener Massenmörder Mackensen, nach dem die viele Jahre von Bahr besuchte Schule benannt worden war.
So wäre die Tradition, sagte der Schulleiter und fügte stolz hinzu, dass Egon Bahr Mitglied des Fördervereins der Schule gewesen sei und sich bis zu seinem Tode sehr für die Vorgänge am Johann-Walter-Gymnasium interessiert habe.
Nun ja, entgegnete ich, es gebe allerdings einen Unterschied bei den drei überlieferten Namensgebern, den man auch deutlich aussprechen müsse, damit er nicht untergehe: Weder Johann Walter noch Ernst Schneller könne man den deutschen Kriegsverbrechern zurechnen.
Wir hätten übrigens Ende der sechziger Jahre in einem FDJ-Subbotnik, also einem freiwilligen Arbeitseinsatz, die Wildnis zwischen Schulgebäude und Bernhard-Kellermann-Halle – heute eine gepflegte Grünanlage – beseitigt. Tief unter Brombeergestrüpp entdeckten wir damals Mackensens Büste, die vermutlich mal das Foyer der Schule geziert und beim antifaschistischen Ausmisten dort hinten mit anderem Müll entsorgt worden war. Die Natur zeigte sich gnädig und überzog binnen eines Vierteljahrhunderts den Schutthaufen der Geschichte mit Wurzeln und Blattwerk.
Was ist mit der Büste passiert, erkundigte sich der hellhörige Schulleiter. Tja, wenn wir das wüssten, zuckten alle damals Beteiligten die Schultern. Nun war nach meiner Erinnerung die steinerne Abbildung des schnauzbärtigen Nationalisten und Militaristen wahrlich kein Kunstwerk, das der Ausstellung lohnte. Gleichwohl gehörte diese Büste, so sie denn aufgefunden und unter historischen Aspekten aufgestellt werden würde, zur Geschichte der Schule, daneben ein Bildnis des in Leipzig geborenen Antifaschisten und Antimilitaristen Ernst Schneller; eventuell der Bronzekopf, den Ernst Loeber in den siebziger Jahren schuf und der in den neunziger Jahren auf Beschluss der Bezirksverordnetenversammlung Berlin-Treptow demontiert und ins Depot verbannt wurde. Das überlebensgroße Bronzeporträt befand sich vorm Kulturhaus »Ernst Schneller« auf dem Gelände des VEB Berliner Metallhütten- und Halbzeugwerke (BMHW) in der Fließ-, Ecke Flutstraße. Beide Einrichtungen gibt es nicht mehr. Und der eingelagerte Kopf soll auch verschwunden sein. Wie weiland die Büste von Mackensen – eine fragwürdige Art des Umgangs mit Geschichte allemal.
Unser Klassentreffen fand seinen Abschluss in einem sechshundert Jahre alten Gebäude in der Spitalstraße, das auch noch »Deutsches Haus« hieß. Zur akzeptierten Entschuldigung trugen die Betreiber des Pensionsgasthofes vor, dass man schon seit dem 19. Jahrhundert so heiße und keineswegs einem aktuellen Trend folge. Als es bereits dunkelte, lief ich über den Markt zurück zu meinem Auto. Der braune Spuk hatte sich inzwischen verzogen. Allerdings hinterließ er unterm Scheibenwischer seine Botschaft: »Konsequent wählen! Deutsch wählen!« Der Absender: »Der Dritte Weg« und ein Postfach in Bad Dürkheim. Nicht zu verwechseln mit Bad Düben in der Dübener Heide unweit von Torgau. Bad Dürkheim liegt am Rande des Pfälzer Waldes in Rheinland-Pfalz.
Und ich Esel glaubte schon, dass meine Geburtsstadt Torgau nun auch hinüber wäre.