Skip to content

Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

Menu
Menu

The Carnival Is Over

Die Stim­men kräch­zen und die Wor­te höhnen –

ver­ließ das Haus und schloß die Reverie.

(Gott­fried Benn)

Sicher­lich, sie tanz­te nur einen Som­mer. Bis zur Kür kam die Par­tei­vor­sit­zen­de nicht.

Aber es war doch kein Solo­tanz, wie die all­ge­mei­ne Fokus­sie­rung auf ihre Per­son nahe­zu­le­gen scheint. Sie hat­te doch Mittän­ze­rin­nen und -tän­zer, dort auf dem glat­ten Par­kett des Wil­ly-Brandt-Hau­ses in Ber­lin. Dort, wo seit sei­ner Ein­wei­hung im Mai 1996 so man­cher Par­tei­vor­sit­zen­de aus­rutsch­te oder gemeu­chelt wur­de, manch­mal auch mit ihrer Beihilfe.

Zehn Frau­en und Män­ner bil­de­ten gemein­sam mit ihr die Par­tei­spit­ze, zusam­men mit sechs wei­te­ren Bei­sit­ze­rin­nen und Bei­sit­zern erga­ben sie das Par­tei­prä­si­di­um, und 35 Genos­sin­nen und Genos­sen stan­den dem Gre­mi­um als Par­tei­vor­stand – zur Sei­te? Oder hin­ter ihm? Oder neben ihm? Alles in allem knapp über 50 Sozi­al­de­mo­kra­tin­nen und Sozialdemokraten.

Sicher­lich, sie war die Par­tei­vor­sit­zen­de, seit Früh­jahr 2018. Aber vor ihr, neben ihr, hin­ter ihr saßen in den Sit­zun­gen und Bera­tun­gen Per­so­nen mit lan­des­weit bekann­ten Namen und regel­mä­ßi­ger Medi­en­prä­senz: Drey­er, Schä­fer-Güm­bel, Schwe­sig – neu­er­dings auch als kom­mis­sa­ri­sche Par­tei­füh­rung »Die drei Mus­ke­tie­re« der SPD genannt nach ihrem selbst ver­kün­de­ten Wahl­spruch bei ihrer Vor­stel­lung: Einer für alle, alle für einen. Wei­ter in der Auf­zäh­lung: Scholz, Ste­g­ner, Heil, Schul­ze, Uecker­mann, Mül­ler, Tsch­ent­scher, Weil … Und sie alle lie­ßen sich von ihr kujo­nie­ren? Stimm­ten gegen ihre eige­ne Über­zeu­gung für die vor­ge­schla­ge­nen Posi­tio­nen, Schrit­te, Vor­la­gen und (Wahlkampf-)Planungen?

Sicher­lich, es gibt seit ein­ein­halb Jah­ren auch einen Gene­ral­se­kre­tär. Er mach­te aber bis­her sei­nem Namen kei­ne Ehre, blieb blass. Kling­beil man­gelt es halt in man­cher Aus­ein­an­der­set­zung an wohl­tu­en­der, tren­nen­der Schär­fe. Und auch an theo­re­ti­scher Tie­fe, die der Par­tei neue Impul­se hät­te geben und wie­der zu frü­he­rer Kam­pa­gnen­fä­hig­keit hät­te füh­ren kön­nen. Peter Glotz lässt grü­ßen, vor Zei­ten Bun­des­ge­schäfts­füh­rer, aber der war ja von Haus aus auch Kommunikationswissenschaftler.

Apro­pos Kom­mu­ni­ka­ti­on: Angeb­lich gibt es in der Par­tei­zen­tra­le auch eine Stel­le für Pres­se- und Öffentlichkeitsarbeit.

Im Janu­ar las ich eine Sta­ti­stik: 2018 saßen in Talk­run­den (Will, Ill­ner, Hart aber fair) 13-mal Habeck, 10-mal Baer­bock, Lind­ner, Alt­mai­er, erst dahin­ter kamen Bar­ley und Wagen­knecht und dann Gau­land. (Ich ver­mis­se in der Auf­stel­lung den gefühl­ten Dau­er­gast Kubicki.) Als The­men wur­den 13-mal die Gro­ße Koali­ti­on, je 8-mal Mer­kel und Trump, 7-mal Migra­ti­on behan­delt. Zwei Jah­re zuvor, 2016, hat­ten Hoch­kon­junk­tur: 40-mal Flücht­lin­ge, 15-mal Islam, Gewalt, Ter­ro­ris­mus. Sit­zen hier nicht die wah­ren Influen­cer, die mit gro­ßem Erfolg ihre The­sen plat­zie­ren, fast unter Aus­schluss von Sozi­al­de­mo­kra­ten und Linken?

Sicher­lich, sie war auch die Vor­sit­zen­de der SPD-Bun­des­tags­frak­ti­on. Unter ihrer Füh­rung wur­de auf vie­len Fel­dern gute Arbeit gelei­stet, in der kur­zen Zeit seit dem 14. März 2018, als die neue Regie­rung ernannt wur­de. Nach­dem die FDP – auch das ist inzwi­schen fast schon aus dem Blick gera­ten – sich dem ande­ren Bünd­nis ver­wei­gert hatte.

Gera­de hat die Abtei­lung Sozi­al­po­li­tik des DGB im Rück­blick auf das erste Regie­rungs­jahr bilan­ziert, »dass die­se so viel geschol­te­ne schwarz-rote Koali­ti­on eini­ges Wich­ti­ge für Arbeit­neh­me­rin­nen und Arbeit­neh­mer auf den Weg gebracht hat«: Wie­der­her­stel­lung der pari­tä­ti­schen Finan­zie­rung der gesetz­li­chen Kran­ken­ver­si­che­rung, Siche­rung des Ren­ten­ni­veaus auf 48 Pro­zent, Ver­bes­se­run­gen für Erwerbs­ge­min­der­te, in der Pfle­ge und – »trotz Fehl­fi­nan­zie­rung« – für die Ren­te von Müt­tern. Erfol­ge der SPD-Bun­des­tags­frak­ti­on, die, so scheint es, weit­ge­hend an den Men­schen vor­bei­gerauscht, aus ihrem Bewusst­sein ver­schwun­den sind, falls sie dort über­haupt anka­men. Ein­tags­flie­gen in der Medi­en­land­schaft. Auch hier gilt: Öffent­lich­keits­ar­beit mangelhaft.

Der DGB bilan­ziert wei­ter: »Ob nun das Glas halb leer ist oder halb voll, dar­über lässt sich treff­lich strei­ten. Sicher ist jedoch, es ist noch Platz, um es zu fül­len.« Mit »guten, nach­hal­ti­gen, an den Bedürf­nis­sen der Men­schen ori­en­tier­ten Lösun­gen«. Dazu zählt der Gewerk­schafts­bund auch das Gesetz zur Grund­ren­te ohne Bedürf­tig­keits­prü­fung, des­sen Refe­ren­ten­ent­wurf durch den Bun­des­ar­beits­mi­ni­ster im Mai vor­ge­legt wur­de und der auf sei­ne Ver­ab­schie­dung wartet.

Und dann die Euro­pa­wahl, mit einem Wahl­kampf ohne Pep, mit einer Spit­zen­kan­di­da­tin, die zum Jagen, zur Kan­di­da­tur, getra­gen wer­den muss­te. Par­al­lel dazu diver­se kom­mu­na­le Wah­len und die Bür­ger­schafts­wahl in Bre­men. Das Ergeb­nis: Alles in allem eine schmerz­haf­te Ent­täu­schung, ein Schlag ins Kon­tor. Alarm­stim­mung auch in der Bun­des­tags­frak­ti­on: Zwei Jah­re vor der näch­sten Bun­des­tags­wahl, regu­lär im Herbst 2021, beka­men die sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Abge­ord­ne­ten ordent­lich Muf­fen­sausen, Exi­stenz­äng­ste. Und mehr noch die Wahl­kämp­fe­rin­nen und Wahl­kämp­fer zu den bevor­ste­hen­den Land­tags­wah­len in Bran­den­burg und Sach­sen (1. Sep­tem­ber) sowie in Thü­rin­gen (27. Oktober).

Wenn die­ser Sink­flug so wei­ter­gin­ge … Das Ruder muss her­um­ge­ris­sen wer­den. Schuld hat nur eine. Die Vor­tän­ze­rin. Schuld sind nicht die Hecken­schüt­zen, die Quer­trei­ber, die jetzt Mor­gen­luft wit­tern. Die nie das Mit­glie­der­vo­tum akzep­tier­ten, das den Weg frei mach­te zu der von ihnen unge­lieb­ten ehe­mals Gro­ßen Koali­ti­on, für sie die Quel­le allen Übels. Die sich auf den Oppo­si­ti­ons­bän­ken in den näch­sten 15 Jah­ren rege­ne­rie­ren wol­len: klein, aber fein.

Klar, sie hat Feh­ler gemacht, die ihr anhän­gen. Deren genüss­li­che Erwäh­nung fehl­te in kei­ner Fern­seh­re­por­ta­ge zum Rück­tritt. Stich­wor­te: Ver­fas­sungs­schutz­prä­si­dent Maa­ßen; »Ab mor­gen krie­gen sie in die Fres­se«; »Bät­schi«.

Kein gutes Kli­ma. Weder in der Frak­ti­on noch drau­ßen. Drau­ßen im Lan­de, wo seit eini­ger Zeit vor allem in den gro­ßen Städ­ten Frei­tag für Frei­tag mono­the­ma­ti­sche Herr­schafts­kri­tik die Stra­ßen erobert, sich in neu­er Qua­li­tät in Demon­stra­tio­nen für eine ande­re Kli­ma­po­li­tik äußert, kraft­voll, fast 50 Jah­re nach­dem der Club of Rome sei­ne alar­mie­ren­de Stu­die »Die Gren­zen des Wachs­tums« vor­stell­te, die den ersten gro­ßen Schub für eine neue Umwelt- und Kli­ma­po­li­tik einleitete.

Die­se Demon­stra­tio­nen wer­den in ihrer Mehr­heit von jun­gen Men­schen getra­gen, die noch nicht gebo­ren oder erst im Vor­schul­al­ter waren, als die sie­ben Jah­re Regie­rungs­be­tei­li­gung der Grü­nen zu Ende gin­gen. Eine Regie­rungs­zeit, von der die jun­gen Leu­te in der Regel nichts oder nicht viel wis­sen und in der die heu­te ange­him­mel­te Par­tei, bei­spiels­wei­se, die Krie­ge auf dem Bal­kan und in Afgha­ni­stan – Außen­mi­ni­ster damals: Josch­ka Fischer – sowie die Agen­da 2010 des SPD-Kanz­lers Schrö­der (Hartz IV) mit­ge­tra­gen hat. Es ist eine span­nen­de Fra­ge, was pas­sie­ren wird, wenn die Demon­stran­ten erken­nen müs­sen, dass ihr Erwar­tungs­ho­ri­zont mit dem Zeit­ho­ri­zont kollidiert.

Kein gutes Kli­ma. Kein Rück­halt. Kein Ver­trau­en. Und kein Respekt. Kurz­um: kei­ne Basis mehr. Zeit zu gehen. Und für letz­te Wor­te: »Bleibt bei­ein­an­der und han­delt besonnen!«

Auf der Web­site der Bun­des­par­tei führt ein But­ton zu einer Art Ehren­ta­fel »Grö­ßen der Sozi­al­de­mo­kra­tie«, die mit Bahr, Bebel, Brandt beginnt. An 13. Stel­le, dem Alpha­bet geschul­det, steht, fast Schul­ter an Schul­ter mit Fer­di­nand Lasalle und Erich Ollen­hau­er: Andrea Nah­les. Sie hat nun das Hand­tuch gewor­den, nach 30 Jah­ren Kärr­ner­ar­beit für ihre Par­tei. The car­ni­val is over. Für sie.