Nach und nach läuft der Kulturbetrieb wieder an, wobei an den freibleibenden Plätzen in Fußballstadien wie in Buchhandlungen erkennbar ist, dass die Pandemie-Lethargie in gewisser Weise fortdauert. Es wird wohl noch einige Zeit brauchen, ehe die Agonie überwunden ist. Ob der Kulturbetrieb jemals wieder so lebendig und so vielfältig sein wird wie vor Corona, steht dahin. Dieser Zweifel bedrängte auch die Buchhändlerin von Wandlitz bei Berlin, die vor Jahresfrist Egon Krenz mit seinem damals aktuellen Spiegel online Bestseller »Wir und die Russen. Die Beziehungen zwischen Berlin und Moskau im Herbst ’89« (edition ost) eingeladen hatte. Dann kam der Lockdown und der letzte SED-Generalsekretär, der im Herbst ’89 für Gewaltfreiheit gesorgt hatte, unters Messer. Inzwischen ist Egon Krenz medizinisch rehabilitiert, wenngleich noch immer auf Krücken angewiesen, und er hat ein neues Buch vorgelegt. Es ist ein Gespräch mit dem in Wandlitz lebenden Rechtsanwalt Friedrich Wolff, der einst DDR-Dissidenten, Nazis wie Globke und Oberländer in DDR-Schauprozessen und den Ex-Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker vor Gerichten verteidigte. »Komm mir nicht mit Rechtsstaat«, so der provokante Titel dieses Bandes. Er »nimmt die gegen die DDR gerichtete antikommunistische Propagandathesen des Kalten Krieges aufs Korn und widerlegt sie mit präziser Sachkenntnis«, urteilte Heinrich Hannover in einer Rezension.
Die Buchhändlerin Melanie Brauchler holte nunmehr die damals verschobene Lesung mit Krenz am Tag vor der Bundestagswahl nach, unsicher, ob genügend Zuhörer kommen würden. Fünf sagten kurzfristig telefonisch ab, weil sie sich nicht den coronabedingten Vorschriften im Veranstaltungslokal unterwerfen mochten. Dieses hieß »Zum tapferen Schneiderlein« und befand sich im benachbarten Klosterfelde. Dorthin war Buchhändlerin Brauchler ausgewichen, weil unter Berücksichtigung der Hygienevorschriften in ihren Laden in der Prenzlauer Chaussee 167 in Wandlitz nicht so viele Interessierte eingelassen werden durften, wie eventuell kommen würden.
Für Egon Krenz aus Dierhagen an der Ostsee, wo er seit Jahren lebt, war es die erste Lesung seit langer Zeit, und entgegen früherer Gewohnheit, seine Überzeugungen und Auffassungen aus dem Stegreif zu formulieren, hatte er sich schriftlich vorbereitet. So wurde denn aus der Lesung zunächst ein Vortrag. Im zweiten Teil stand der demnächst bald 85-Jährige wie gewohnt lebhaft und pointiert Rede und Antwort, wobei die meisten Zuhörer sich mehr für seine Sicht auf die Gegenwart denn auf die Vergangenheit zu interessieren schienen. Warum er heute so nachsichtig über Gorbatschow urteile, wollte einer wissen, und ein anderer monierte, dass er überhaupt nichts zu den Menschenrechten und deren Verletzung in der DDR gesagt habe, worauf Krenz mit allem Recht darauf hinwies, dass dies heute und hier nicht das Thema sei. Er habe – woran wohl nur wenige im Saal zweifelten – dazu eine sehr dezidierte Meinung. Natürlich sei auch in der DDR – wie in jedem anderen Staat der Welt – Unrecht geschehen, aber die DDR sei darum kein Unrechtsstaat gewesen. Und es sei dort menschlicher zugegangen als in der heutigen Bundesrepublik. Beifall.
Schwerpunkt aber der auch mit dieser Zeile angekündigten Veranstaltung war das Verhältnis der Deutschen zu den Russen, der Umgang der Bundesrepublik mit der Russischen Föderation. Der Hass, mit dem in deutschen Medien und auch von Politikern heute gehetzt werde, gehe inzwischen darüber hinaus, was in den Hochzeiten des Kalten Krieges in der Bundesrepublik über die Sowjetunion verbreitet wurde. Unabhängig davon, wie kritisch der Blick auf den Kreml und dessen Politik sei, so gezieme sich Zurückhaltung nicht nur wegen der in deutschem Namen an den Russen verübten Verbrechen. Mit Aussöhnung und Völkerverständigung habe das wenig zu tun, nichts mit guter Nachbarschaft. Es bedrücke ihn, wenn inzwischen wieder deutsche Panzer dort stünden, wo sie vor achtzig Jahren, vorm Überfall auf die Sowjetunion, gestanden haben. Das Großmanöver »Defender 2021« ist der größte NATO-Aufmarsch gen Osten seit dem Ende des Warschauer Vertrages gewesen. Das war mehr als nur eine Provokation, sagte Krenz, und am Klang seiner Stimme war zu erkennen, dass ihm das Kriegsgeschrei persönlich sehr nahe ging.
Das tapfere Schneiderlein im Dorfkrug »Zum tapferen Schneiderlein« in Klosterfelde kämpfte gegen die Bedrohung des Friedens. Einige erhoben sich und ihre Bierseidel protestierend, sie setzten augenscheinlich andere Prioritäten. Einer rief gar »Kommunistenparty«, und andere folgten ihm zum Ausgang. Die Diskussion, besser: der Meinungsaustausch, ging ruhig und ernsthaft weiter.
Nach der Veranstaltung, Krenz schritt mit Krücke ins Freie, traf er vorm Haus jene wieder, die mit Aplomb die Lesung verlassen hatten. Sie saßen speisend unterm Schild »Zum tapferen Schneiderlein. Im Familienbesitz seit 1759«. Er wünschte ihnen ohne Arg und Hinterlist höflich »Guten Appetit« und fügte ein freundliches »Auf Wiedersehn« an.
Das verschlug ihnen sichtlich die Sprache. »Siebene auf einen Streich«, wie bei den Gebrüdern Grimm.