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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Straßenterror

Der Unmut über Stra­ßen­na­men und damit auch über Regime­wech­sel, denen ja bekannt­lich Umbe­nen­nun­gen von Stra­ßen auf den Fuß fol­gen, beglei­tet mich seit mei­ner anti­au­to­ri­tä­ren Jugend­zeit. Eine der präch­tig­sten Stra­ßen Kas­sels hieß und heißt selbst­ver­ständ­lich Goe­the­stra­ße. In Kas­sel hat also das Regime nie gewech­selt. Ver­mut­lich stöhnt das par­tei­lo­se Deutsch­land unter min­de­stens meh­re­ren hun­dert, wenn nicht meh­re­ren tau­send Goethestraßen.

Da kommt Wal­ter Flex (1887 – 1917) trotz unse­res jüng­sten Krie­ges gegen die Rus­sen nicht so schnell her­an. Der thü­rin­gi­sche Bedich­ter von Rau­schen­den Wild­gän­sen und Völ­kern in Eisen, steu­er­recht­lich Schrift­stel­ler und Leut­nant, starb mit 30 bei einem Gefecht an der Ost­front (Insel Ösel, Est­land) den Hel­den­tod. Neu­lich schrieb ich einen Lexi­kon­ar­ti­kel über ihn und kam beim Nach­for­schen auf min­de­stens 27 deut­sche Wal­ter-Flex-Stra­ßen. Außen­mi­ni­ste­rin Baer­bock kann die Liste der auf­ge­flex­ten deut­schen Orte gern bei mir anfor­dern. Aber aus­ge­rech­net Eisenach, wo der Sohn eines dor­ti­gen »natio­nal­li­be­ra­len« Gym­na­si­al­pro­fes­sors Abitur mach­te, hat bis heu­te mit einer Stra­ßen­tau­fe nach Flex gegeizt. Da lässt sich sicher­lich noch etwas machen.

Vor 70 Jah­ren wur­de in Essen der jun­ge Geg­ner der Wie­der­be­waff­nung Phil­ipp Mül­ler (1931-52) von der Poli­zei erschos­sen. Seit­dem gab es in der DDR, nicht ganz unver­ständ­lich, zahl­rei­che Phil­ipp-Mül­ler-Stra­ßen, dar­un­ter auch in Hal­le. Ich sag­te: gab. 2012 wur­de die in Hal­le näm­lich in Wil­ly-Brandt-Stra­ße umbe­nannt. Der Unter­schied zwi­schen hoch­her­zi­gem und schä­bi­gem Sie­ger­ver­hal­ten war der Stadt­rats­mehr­heit von Hal­le viel­leicht nicht bekannt. Oder woll­te man hier eine »klamm­heim­li­che« Ver­bin­dung nicht nur zu Brandts soge­nann­tem Radi­ka­len­er­lass, son­dern auch zum Ende Ben­no Ohnes­orgs her­stel­len? Damals, 1967, war Brandt in Bonn Außen­mi­ni­ster und Vize­kanz­ler gewe­sen – um von sei­nen West­ber­li­ner Par­tei­freun­den Hein­rich Albertz (Bür­ger­mei­ster) und Erich Duen­sing (Ex-Gene­ral­stabs­of­fi­zier, Poli­zei­prä­si­dent) zu schwei­gen. Brandts Radi­ka­len­er­lass führ­te übri­gens zu groß­an­ge­leg­ter Schnüf­fe­lei im Öffent­li­chen Dienst und min­de­stens 2.000 Berufs­ver­bo­ten – selbst­ver­ständ­lich ganz über­wie­gend gegen Lin­ke aus­ge­spro­chen. Gegen­wär­tig wird dar­an wie­der ange­knüpft. Den Viet­nam­krieg dul­de­te Brandt. Gleich­wohl wer­den gewis­se Inter­net-Por­ta­le nicht müde, Brandts Sta­tus als sozi­al­de­mo­kra­ti­scher Säu­len­hei­li­ger beson­ders mit der Behaup­tung zu ver­tei­di­gen, er habe groß­ar­ti­ge »Ent­span­nungs­po­li­tik« betrie­ben. Die kann dem Wei­ßen Haus kaum miss­fal­len haben, heißt es doch in Tim Wei­ners umfang­rei­cher CIA-Geschich­te (deut­sche Aus­ga­be Ffm 2008) auf Sei­te 400, die Yan­kees hät­ten wäh­rend des gan­zen Kal­ten Krie­ges »heim­lich« (anti­kom­mu­ni­stisch gestimm­te) Poli­ti­ker in West­eu­ro­pa »unter­stützt« – dar­un­ter »der deut­sche Bun­des­kanz­ler Wil­ly Brandt«.

Übri­gens leh­ne ich per­so­nen­be­zo­ge­ne Stra­ßen­na­men grund­sätz­lich ab. Ich ver­ab­scheue näm­lich jeden Per­so­nen­kult. Die Geschich­te wird nicht von Per­so­nen, son­dern von Struk­tu­ren und Bewe­gun­gen gemacht. Per­so­nen sind in ihr ver­gleichs­wei­se unwich­tig, daher auch sehr leicht aus­tausch­bar, wie das erwähn­te Wei­ße Haus und diver­se Ber­li­ner Regie­rungs­ge­bäu­de seit vie­len Jahr­zehn­ten erle­ben. Dem Revo­lu­tio­när und über­ra­gen­den Schrift­stel­ler Vic­tor Ser­ge, teils in der Sowjet­uni­on aktiv, war das bereits vor 100 Jah­ren klar. Aber was für ein jäm­mer­li­ches Bild gibt der Per­so­nen­kult um Lenin bis Mao im Ver­gleich zu dem post­mo­der­nen Rum­mel ab, der in den west­li­chen »Demo­kra­tien« um die jewei­li­gen Ham­pel­män­ner oder Ham­pel­frau­en der Nati­on gemacht wird! Das kommt natür­lich der post­mo­der­nen Ver­bil­de­rungs­sucht sehr ent­ge­gen. Sie wirft sich auch gern auf soge­nann­te Dich­ter. Von mir aus könnt ihr alle schö­nen Bil­der von Baer­bock, Wagen­knecht oder dem jüng­sten Büch­nerpreis­trä­ger in die Wüste schicken, damit die Kame­le etwas zu lachen haben.

Was denn bit­te die Alter­na­ti­ve wäre? Ich sage nur: Hirsch­steig, Am Pfaf­fen­hüt­chen oder auch Zie­gen­berg­stra­ße, so in Wal­ters­hau­sen, wo ich woh­ne. Das sind wun­der­schö­ne Namen, an die sich aus­führ­li­che Lehr­ge­sprä­che über die deut­sche Flo­ra und Fau­na knüp­fen las­sen. Sie wer­den natür­lich ein­wen­den, dafür sei Deutsch­land inzwi­schen (wie­der) viel zu groß. So viel Natur gäbe es hier gar nicht mehr, dass sich damit das gesam­te Stra­ßen­netz abdecken ließe.