Ich möchte scheintot sein, um zu erleben, wie meine Freunde mir am Grab verzeih’n.
Das würde a) mein Selbstbewusstsein heben und b) für mich ein Spaßvergnügen sein.
Und meine Feindesfreunde würden stieren und stumpfen Blicks in weite Fernen sehn.
Ich aber könnte stadtwärts promenieren und als St. Engel in ein Kloster gehn.
(Aus: Mit weißer Weste, in: Hansgeorg Stengel, Epigramme und Gedichte, Eulenspiegel Verlag Berlin, 1. Auflage)
Selbstbewusster und satirischer kann man in eigenem Namen (St. Engel) eigentlich kaum formulieren. Dazu passt die Tatsache, dass Hansgeorg Stengel am 30.07.22 geboren wurde und sich haargenau am selben Tage wieder aus dem Erdendasein davon machte. Wenn auch gebeugte 81 Jahre später. Sonst hätte es der eingefleischte Vogtländer und umgesiedelte Berliner am 30.07.21 exakt auf 99 stolze Lenze gebracht.
Für literatur- und kabarettbeflissene DDR-Bürger war der Dichter, Moderator, Journalist und Alleinunterhalter eine der spitzesten Zungen der Mittelgebirgsrepublik zwischen der Schwarzen und der Weißen Elster. In letzterer unmittelbarer Nachbarschaft am Greizer Schlossberg geboren, belieferte er bereits als 14Jähriger die ostthüringische Lokalpresse mit Gedichten, bevor er sich in den 1950ern in den hauptstädtischen Teil von Berlin zurückzog und beim Frischen Wind und dem fortsetzenden Eulenspiegel eine Heimat fand. Wie viele Schauspieler, Schreiber und andere knappe Spezialisten wechselte auch er eines Tages die Berliner Himmels-richtung von Ost nach West – im Gegensatz zu anderen Künstlern allerdings erst 1995, als der Senat für die wiedervereinigte Stadt bereits im Roten Rathaus seinen Regierungssitz aufgeschlagen hatte. Und das hatte keine politischen, sondern wohnungspolitische Gründe.
Seine satirische Vielfalt und Ernsthaftigkeit, messbar an der Tucholskys, offenbarte Stengel mit scharfem Wortwitz und in unversöhnlicher Fehde mit Sprachschludereien. So entstanden »Wer lernt mir deutsch?«, »Stenglish for you«, »Wortadella«, »Rettet dem Dativ«, »Willi Wuschkes Geredeschuppen« und weitere unschlagbare Beiträge für Kabarettprogramme und Satirekompendien. Der saftige Spott über sprachliche Verballhornungen verband ihn übrigens ebenso mit Tucho wie die Liebe zu trockenem Rotwein. Für den Eulenspiegel erfand Stengel die Kreuzworträtsel für Querdenker, mit Karl Schrader erfand er eine aktuelle Fassung des »Struwwelpeter«, und mit NBI-Chefbildner Gerhard Kiesling, einem Landsmann, schuf er die »Greizer Sonate«.
Überhaupt legte er großen Wert auf seine vogtländische Herkunft, die er als besondere Fügung betrachtete. Dass der Astronaut Merbold ebenfalls Greizer war und der Kosmonaut Jähn zumindest naher Vogtländer, wunderte ihn nicht. Er betonte aber auch sein Verständnis für alle Mitbürger, denen dieses Privileg durch eine andere Geburtsgegend versagt geblieben war. Speziell für die Anlieger verfasste er heimatnahe Aphorismen, so etwa: »Eine Blattlaus aus Langenhessen hatte ihr Manuskript vergessen. Drum fand das Referat nicht statt, denn Blattläuse lesen nur vom Blatt.«
Den Frauen, und nicht nur denen aus seiner Heimatgegend, galt stets seine ganz besondere Aufmerksamkeit.
»Um Christel bemühten sich viele Knaben,
doch immer wieder schmollte sie: Nein!
Ich möchte nicht nur einen Freier haben,
es muss schon ein Einwandfreier sein!«
Für das neue deutschland schrieb er die Gastkolumne »Mit dem Kropf durch die Wand«, und in seiner Veranstaltungsreihe »Lachen und lachen lassen« kamen solch unbequeme Geister wie Ernst Röhl, Eddi Külow, Jochen Petersdorf, Ottokar Domma und Lothar Kusche zu Wort. Diese Reihe war wohl auch einer der Gründe dafür, dass das Fernsehen der DDR nur sehr sparsam mit ihm umging. Denn auf politische Einwände gegen seine treffsicheren Pointen reagierte er allergisch. Als man dem schon Betagten bei einem Solo-Auftritt an der Technischen Hochschule Ilmenau einen Stuhl zuschob, lehnte er die Fürsorge mit der Bemerkung »Welcher Satiriker sitzt schon gern?« dankend ab.
Er war von sich überzeugt, hatte aber auch allen Grund dazu. Dem Autor dieser Zeilen, ebenfalls Vogtländer, der Stengel um ein Urteil über seine als Werbetext bearbeitete »Erlkönig«-Fassung bat, erklärte er, dass er für derartige Anfragen eine Satire-Skala von 1 bis 10 entwickelt habe. Er habe den Text dem 7. Rangplatz zugeordnet.
Darüber freut sich noch heute Wolfgang Helfritsch