Gestern, am 3. Dezember, am Tag vor dem Erscheinen dieser Ausgabe von Ossietzky, wäre Franz Josef Degenhardt 90 Jahre alt geworden. Er starb am 14. November vor zehn Jahren, kurz vor seinem 80. Geburtstag.
Es ist nun fast ein halbes Jahrhundert her, dass er uns zum ersten Mal einlud, zu ihm »an den Tisch unter Pflaumenbäumen zu kommen« (vgl. gleichnamige LP/CD, Hamburg 1973), wo der Hammel schon gar überm Laub war, mit ihm reifen Kartoffelschnaps zu trinken, mit ihm zu lachen, »bis morgens der Nachtvogel schreit«. Und vor allem: »Wieder gute Geschichten erzählen von damals und von dieser Zeit.« Denn: »Unsre Sache steht nicht schlecht.« Das schien in jenen Tagen so, »wo es manchem scheinen mochte, als könnte die große Veränderung tatsächlich überspringen auf die ökonomische Basis unserer Gesellschaft« (Thomas Rothschild).
Ebenfalls 1973 legte der in Schwelm, Westfalen, geborene Liedermacher mit »Zündschnüre« seinen ersten Roman vor, der 1974 vom WDR fürs Fernsehen verfilmt wurde. Der »Zündschnüre-Song« bildete einen deutlichen Kontrast zu der linken Idylle unter den Pflaumenbäumen und zeigte den anderen, den politischen Degenhardt: »Und als von tausend Jahren / nur elf vergangen waren / im letzten Jahr vom Krieg / da lag die Welt in Scherben / und Deutschland lag im Sterben / und schrie noch Heil und Sieg.«
Der Roman ließ aus dem Blickwinkel einer Handvoll Arbeiterkinder, im selben Jahr geboren wie Degenhardt, das Bild vom Alltag in einem Arbeiterviertel in einer Kleinstadt am Rande des Ruhrgebietes in den letzten beiden Jahren des Zweiten Weltkriegs entstehen. »Sehr gefährliche Spiele« wurden da gespielt, denn »Horcher gab es viele«, und »die von den Faschisten / sich nicht zerbrechen ließen, / die waren nicht mehr viel.«
1975 erschien mit »Brandstellen« der zweite Roman, gewissermaßen eine Fortsetzung, nun aber in der Bundesrepublik spielend. 1977 wurde er vom DEFA-Studio für Spielfilme verfilmt. Andere Kämpfe standen jetzt an: gegen Berufsverbote zum Beispiel oder in einer neu gebildeten Bürgerinitiative für die Rettung eines Naherholungsgebietes, das einem Nato-Truppenübungsplatz weichen sollte. Der Hauptakteur, mit 34 Jahren so alt wie der Autor und wie dieser Rechtsanwalt, fährt aus Hamburg zurück in seine alte Heimat, in die »Zündschnüre«-Stadt im südlichen Ruhrgebiet, wo er den inzwischen erwachsen gewordenen Kumpanen aus früherer Zeit begegnet. Am Ende muss er sich entscheiden, wo er steht: bei seinen Leuten aus dem Schmuddelkinder-Viertel oder bei den Leuten aus der Oberstadt. Mit diesem Roman war Degenhardt nach inzwischen schon neun Schallplatten – das erste Album stammt aus dem Jahr 1963 – auch als Schriftsteller angekommen. »Zündschnüre« wurde hundertausendfach in Ost und West gelesen.
In »Petroleum und Robbenöl«, dem nächsten Buch (1976), wiederum im Ruhrgebiet spielend, erzählt ein Sohn die fantastische Geschichte von seinem plötzlich durchgedrehten Manager-Vater und wie dieser durch die Einwirkungen eines Eskimo-Schamanen wieder gesundete. Bob Dylan’s »Mighty Quinn« lässt grüßen: Come all without, come all within, / You’ll not see nothing like the mighty Quinn.
Fünf weitere Romane folgten: 1979 »Die Misshandlung«, über das Schicksal eines Zwölfjährigen, der von seinen Eltern jahrelang in einem Verschlag eingesperrt war, ein Fall, der den Vormundschaftsrichter dazu bringt, sein eigenes Leben zu hinterfragen. – 1982 »Der Liedermacher«, über einen linken Liedermacher, der plötzlich zum APO-Opa wird. (Für Nachgeborene: APO = Außerparlamentarische Opposition.) – 1985 »Die Abholzung«, über einen Mann, der aus der Zukunft kommt, weil er seine Vorfahren sucht, und der dabei auf eine Frau stößt aus »jener gehobenen Mittelschicht, die in Gemeinden am Rande von Großstädten« siedelt, verheiratet, ohne Beruf, zwei Kinder, ein Hund, und die plötzlich etwas Unerwartetes tut. Sie kettet sich an einen Baum und bespuckt die Polizisten, die sie losschneiden wollen. – 1991 »August Heinrich Hoffmann, genannt von Fallersleben«, über den Verfasser der Deutschland-Hymne, den Degenhardt als einen »oft gedemütigten, aber immer kämpferischen, einen vielfach gebrochenen und deshalb umso interessanteren Mann« darstellt, als einen jener »Vor- und Nachmärz-Liberalen, die alles mitgemacht und einiges vorgemacht haben«. – 1999 erscheint Degenhardts letztes Buch »Für ewig und drei Tage«, in dem er noch einmal in »seine« Stadt an der Ruhr zurückkehrt. Der 95. Geburtstag des Patriarchen einer weitverzweigten Familie – mit Anwälten, Finanzfachleuten, Ärzten und einem Erzbischof – steht an. Während der Geburtstagfeier wird immer deutlicher, wie sehr diese ungekrönten Herrscher der Stadt »aus dem Hintergrund seit je die deutsche Geschichte mitgestaltet« haben. Wir schreiben den August 1991. Während die Feier ihren Lauf nimmt, treffen die ersten Nachrichten ein von einem Putsch in Moskau. Ein »Staatskomitee für den Ausnahmezustand« versucht, den Präsidenten der Sowjetunion Michail Gorbatschow abzusetzen.
Zwar kam der Schriftsteller Degenhardt mit seinen Büchern nie an die Resonanz und den Erfolg des Liedermachers Degenhardt heran, der mit seinen Tourneen bis 2004, also fast 40 Jahre lang, die Säle quer durch die Republik füllte, von Stralsund bis Hamburg und Kiel, von Gelsenkirchen über Worms bis Ingolstadt. Aber dank der regelmäßigen Buchveröffentlichungen blieb er auch dann in Feuilletons und Kulturredaktionen präsent, als – ab 1972 – der öffentlich-rechtliche Rundfunk seine Lieder nicht mehr spielte und seine Tourneen so gut wie nicht mehr wahrnahm. Degenhardts »Befragung eines Kriegsdienstverweigerers« auf Platz 1 der Hitparade des WDR nahmen die Verantwortlichen zum Anlass, in vor- oder nachbeugendem Gehorsam vor den für ihre (Wieder-)Wahl zuständigen Gremien die Reißleine zu ziehen. (Zur Vita Degenhardts und zu seinen Liedern siehe den Nachruf »Ach Franz, lieber Karratsch« in Ossietzky 24/2011.)
Immerhin, im vergangenen Monat sendete der Deutschlandfunk zum 90. Geburtstag 45 Minuten mit »Lied- und Folkgeschichte(n) von Väterchen Franz« und ernannte Degenhardt zum »Urgestein der deutschen Liedermacherszene«. Am Mikrofon: die freischaffende Journalistin Regina Kusch. Die Liedauswahl war »brav«, nix Klassenkampf, dafür »Rumpelstilzchen« von 1963, das unverwüstliche »Spiel nicht mit den Schmuddelkindern« von 1965 und »Väterchen Franz« von 1967. Aber, wie gesagt: immerhin.
Daher ist es an der Zeit, wieder einmal Franz Josef Degenhardt aus dem Schallplatten-/CD-Regal hervorzuholen, seine Lieder zu hören und mitzusingen. Oder in seinen Büchern zu lesen. Oder auch: Degenhardt neu zu entdecken. Und dabei noch einmal (oder neu) bewundernd zu gewahren, wie standhaft und aufrecht Franz Josef Degenhardt durch die (Klassen-)Kämpfe der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ging, deren literarischer und lyrischer Chronist er wurde.