»Kommst du Schulhof?« »Ich geh Aldi.« So oder ähnlich drängt die Jugendsprache immer mehr in den Alltag. »Jurist*in (m/w/d)«, »Richterin/Richter (m/w/d)« – so lauten die aktuellen Stellenausschreibungen in den verschiedenen Medien. Gendersternchen, Bindestriche, Doppelpunkte finden sich überall, in jederart Texten zuhauf. Bis hinein in die aktuellen Wahlprogramme verschiedener Parteien.
Twitter, Facebook, WhatsApp, SMS, Jugendsprache und Gendersprech erobern ganz selbstverständlich den Sprachalltag. Daneben verändern dutzende, zum Teil geradezu abenteuerliche Corona-Begriffe, aber auch Falschmeldungen und verbale Beschimpfungen sowie haarsträubende Verstöße gegen die traditionellen Grammatikregeln bisherige Sprachgewohnheiten. Jahrzehntelang gebräuchliche Wörter verschwinden aus der Rede- und Schriftpraxis. Neue Wörter, Wortgebilde, Kürzel und Absurditäten drängen in den Sprachgebrauch. Es wird versucht, mit Sprachmodifizierungen und -manipulationen gegen Ungerechtigkeiten und Diskriminierungen Andersartiger anzugehen. Gendersensible Sprache soll helfen als »Ausweg« aus den sich verschärfenden Krisen der Gegenwart.
Sprachwandel und Sprachveränderungen erfassen aktuell alle Bereiche der Gesellschaft. Globalisierung, Digitalisierung, Diversität in allen Lebensbereichen und Covid19-Pandemie erobern den Sprachgebrauch. Politiker, Journalisten, Juristen, Wissenschaftler aller Fachrichtungen, ja, Angehörige aller Bevölkerungsgruppen agieren als engagierte Akteure der Sprachveränderung. Sprachwissenschaftler empfehlen »gendergerechte Alternativen« zu bislang ungegenderten Begriffen. Nur zum Beispiel von A bis Z: anstelle Astronaut: »ins Weltall reisende Person«; anstelle Zuschauer: »Person aus dem Publikum«. Uff.
Einige sprechen von notwendigen, unumgänglichen Entwicklungen, von Bereicherung der Sprachpraxis, von mehr Sprachgerechtigkeit. Sie behaupten, alle Sprachen ändern sich ständig, Redeweise und Schriftsprache modifizieren sich zwangsläufig andauernd, müssen sich fortlaufend der sich ständig verändernden Umwelt und Wirklichkeit anpassen. Neue Sprechweisen sollen die progressiven, dynamischen Entwicklungen der Gegenwart aufgreifen.
Andere wettern gegen Missbrauch, Sprachverlotterung und Sprachverfall. Sie fordern, aktiv vorzugehen gegen sprachliche Verhunzung, Verunstaltung und Verrohung. Es müsse verhindert werden, dass immer mehr Menschen angesichts verrohender Sprachgewohnheiten regelrecht abstumpfen, einfach nicht mehr hinhören – und sich deshalb sogar zunehmend jeder demokratischen Kommunikation verweigern. Ja, es gibt meines Erachtens tatsächlich viele dringendere Themen als Gendersternchen.
Angesichts dieser gravierenden Abläufe drängt sich ganz zwangsläufig die Frage auf, ob und inwieweit Initiativen zu Veränderungen im Sprachgebrauch tatsächlich geeignet sind, mehr Sprach- und vor allem mehr Alltagsgerechtigkeit durchzusetzen. Neue Wortschöpfungen, Sprachverkürzungen und Gendersternchen zum Sichtbarmachen von Diversitäten können gewiss helfen, objektiv bedingte Vielfältigkeit stärker ins Licht der Öffentlichkeit zu rücken. Und diesbezüglich sind noch viele Probleme zu lösen. Entscheidend ist aber, ob Sprachänderungen tatsächlich tiefgreifende positive Veränderung bewirken können.
Meine Meinung: Zunächst einmal ist es wichtig, entschieden gegen den zunehmenden Missbrauch der Sprache, gegen Verunstaltungen des Sprachgebrauchs in der Politik und im Alltag vorzugehen. Es sind alle Kräfte zu mobilisieren gegen Falschmeldungen, Hassattacken und Hetze in der politischen Redeweise, gegen vorsätzliche Corona-Leugnung, gegen Antisemitismus, Rassismus, Sexismus, verbale Beleidigungen und andere Schmutzkampagnen. In Wahlkampfzeiten ist Front zu machen dagegen, dass Rechtsextremisten versuchen, mit aggressiven Sprachtiraden Wähler zu verunsichern, dass rechte Karrieristen mit aufputschenden populistischen Reden neue Wählergruppen für sich gewinnen wollen. Angesichts der aggressiven Propaganda der AfD ist Victor Klemperers LTI tatsächlich besorgniserregend aktuell (siehe dazu meinen Artikel in Ossietzky 25/2020)
Und es ist vorzugehen gegen Versuche, unter dem Vorwand, dass auch Sprache ständigem Wandel unterliegt, gewachsenes Niveau und eroberte Qualität des Sprachgebrauchs leichtfertig in Frage zu stellen. Es ist gewiss angeraten, nicht jeglichen temporären Nuancen alltäglichen Schüler-, Party- und Kiezjargons sozusagen unmittelbar »Dudenreife« zuzusprechen. Verantwortungsbewusste Sprachwissenschaftler warnen zu Recht vor dem verderblichen Einfluss so mancher digitaler Praktiken von Twitter, Facebook und SMS auf die Sprachkultur. Diejenigen, die engagiert Vorschläge für eine gendersensible Sprache, für gendergerechte Formulierungs- und Begriffsfindungen unterbreiten, sind gut beraten, wenn sie dabei bisher bewährte Hör- und Lesegewohnheiten in Rechnung stellen.
Allen streckenweise besorgniserregenden Fehlentwicklungen zum Trotz sind Sprachveränderungen und Sprachwandel vor allem zu nutzen zur Bereicherung der Kommunikation. Sie müssen erschlossen werden zu mehr Toleranz und für effektiveren, ehrlichen Austausch unterschiedlicher Ansichten und Meinungen. Die Macht der Sprache ist zuallererst zu erschließen für den entschiedenen Kampf gegen Aggressivität, Hass und Hetze. Sie ist zu erschließen für mehr Kreativität und für das Aufgreifen und Wirksammachen zunehmender Vielfältigkeit. Sie muss erschlossen werden zur Aktivierung bislang vernachlässigter Potentiale der Gesellschaft. Für konstruktive Aktivitäten zur Durchsetzung von mehr Gerechtigkeit im Alltag.