Wenn man dieses Buch liest, ist es, als sei man zurückversetzt worden in die beklemmenden fünfziger Jahre, als rücke die graue Gegenwart der »jungen« DDR noch einmal auf einen zu, als sei man ein Kind. Und es prasseln wieder die Wörter auf einen herab, bei denen man sich nur ducken konnte und natürlich auch sollte. Das Buch von Elke Lorenz zieht einen hinein in jene DDR-Welt, die viele Straf- und Zwangsmöglichkeiten kannte und handhabte, in der die Unterdrückung mittels Sprache aber besonders gern benutzt wurde und perfide funktionierte. Ständig war von einem »Machtwort« die Rede, das nötig sei. Meine Mutter und mein Vater forderten Machtworte des Chefs auf der Dienststelle; sie selbst sprachen Machtworte zu Hause. Und dies in den »kleinen Verhältnissen« einer Eisenbahnerfamilie.
Wenn man aber wie die Protagonistin des Romans von Elke Lorenz, nur genannt »das Mädchen«, Tochter eines im Sozialismus zum Staatsanwalt avancierten ehemaligen Feldgendarmen (also »Kettenhundes«) der Wehrmacht (aus unklar bleibenden Gründen spricht die Autorin von »Armeepolizei«) ist. dann ist man den Machtworten ganz und gar ausgeliefert. Und dieses Ausgeliefertsein beschreibt Elke Lorenz überaus eindringlich. Wie mit Sprache unterdrückt wurde und werden kann, das führt ihr Buch vor, es ist Roman, Bericht und Analyse in einem.
Mit sinnleeren Phrasen bricht »der Mann« (anders wird der Vater, der gefürchtete Staatsanwalt, nie genannt) jeden Widerstand. Wenn man sie liest und wieder zu hören meint, dann fragt man sich, wie es kam, dass sie so wirksam waren. Hatte es damit zu tun, dass man glaubte, gern glauben wollte, hierzulande den Fortschritt gepachtet zu haben? Weil sie von »Autoritäten« gebraucht wurden – den Eltern, den Lehrern, Parteisekretären? Überzeugend erzählt Elke Lorenz, wie diese »Erziehung« auf sie wirkte, ihre Kindheit und Jugend bis ins Erwachsensein bestimmte, auch, wie sie den Umgang mit Machtworten und ihre Anwendung selbst erlernt. Und wie schwer die Befreiung von ihnen fällt. Sie gelingt erst, als der »Mann« auf dem Totenbett liegt. Da gehen Ansprachen wie: »Seht Genossen, ich sage euch offen und ehrlich, das Anliegen meiner heutigen Rede besteht darin, wie es uns bisher gelungen ist, im Sinne der 12. Tagung des Zentral-komitees der SED, der 7. Tagung des Bundesvorstandes des FDGB sowie des Beschlusses des Politbüros vom 13. September den sozialistischen Wettbewerb in Vorbereitung des Jahrestages …« in ein richtiges Kauderwelsch über: »Chi dis da bis ds …« Dass die Tochter nun sagen kann, dass sie ihren Vater (den sie nun auch so anreden kann) versteht, das ist eine beeindruckende Passage, die anrührend und von großer Menschlichkeit ist.
Solche Szenen bleiben in einem nach der Lektüre. Da wird die Wirkung erzielt, die mancher Exkurs der Autorin, in dem die Schreibabsichten erklärt werden, manche Betrachtungen über das Schreiben und die Kommentare zu gegenwärtigen Literaturentwicklungen, wie etwa auf Seite 92: »Bücher sind ja heute nichts Besonderes mehr … « nicht haben. Denn dergleichen hat der Roman gar nicht nötig. Nein, die Geschichte eines Mannes, der immer recht hat, weil er Macht hat und diese in Worten manifestiert, der verhört, anklagt, verurteilt, Leben zerstört mit seinen Worthülsen; die Geschichte seiner Familie und vor allem die seiner Tochter, die ist so stark, so wirkungsvoll, so wichtig und nötig, dass sie sich allein trägt. Und jeder, der meint, »früher, im Osten« da sei doch alles besser gewesen, der sollte sofort zu lesen beginnen, wie »Machtworte« wirken.
Elke Lorenz: Machtworte, Roman, Mitteldeutscher Verlag 2022, 244 S., 20 €.