Nein, sie spinnen nicht, die Römer. Auch wenn das, was sich in den letzten Wochen in Italien vor den verständnislosen bis entsetzten Augen der Bevölkerung bereits seit Dezember abspielte, diesen Eindruck europaweit verbreitet haben mag. Doch das, was Mitte Januar zu dem unverantwortlichen Verhalten eines machtbesessenen ehemaligen Regierungschefs geführt hat, ist inzwischen anhand des nun absehbaren Epilogs dieser vom Zaun gebrochenen Regierungskrise deutlich geworden:
Wieder einmal soll eine Regierung, die nicht dem maximalen Kapitalinteresse entsprach, einfach abgelöst werden durch einen »tecnico«, einen Fachmann, der in diesem Fall aber keine Sparpolitik durchsetzen wird (wie zuletzt 2011 Mario Monti), sondern im Gegenteil, die dem Land von der EU zugesprochenen Schulden-Milliarden »sinnvoll« ausgeben soll. Ein Unterschied, mit dem sich die meisten derer trösten, die die Demokratie weiter geschwächt sehen, denn es sind nun schon fast zehn Jahre, dass die Italiener mit »von oben« eingesetzten Regierungschefs überrascht werden.
Die Regierung Conte II, deren heterogene Komponenten – die Demokraten (PD) und die 5-Sterne-Bewegung (M5S), die Restlinken (LeU) und die Renzi-Abspaltung von der PD Italia Viva (IV) – durch den Ministerpräsidenten Giuseppe Conte seit September 2019 mit viel Geduld und einigem Geschick zusammengehalten worden waren, hatte das weitgehend unvorbereitete Land einigermaßen bedacht durch die Pandemie-Krise geführt. Wofür gut 60 Prozent der Italiener ihrem Regierungschef durchaus dankbar waren.
Aber Contes Regierung bot nun nach Meinung der »poteri forti« keine genügende Garantie für eine neoliberal orientierte Investitionspolitik für die erwarteten Corona-Hilfsgelder (mehr als 200 Mrd. €), die hier wie ein neuer Marschallplan herbeigesehnt werden, der Italien aus allem Elend erlösen soll. Das Argument fehlender Fach-Kompetenzen kam ins Spiel, aber vor allem sollten die noch immer als politische Außenseiter geltenden 5-Sterne nicht an die Fleischtöpfe gelangen. Die Bewegung M5S ist zwar nicht »links« im traditionellen Sinne, gilt aber weithin als unberechenbar, hatte sie doch inzwischen eine minimale Arbeitslosenversicherung (reddito di cittadinanza) und eine kleine Milderung (Quota 100) der 2011 erfolgten brutalen Rentenkürzung durchsetzen können. Weitere Veränderungen im Gesundheits- und Bildungswesen sowie bei der Infrastruktur waren schon angekündigt, ebenso eine entschiedenere Umwelt- und eine freundlichere Ausländerpolitik sowie vor allem eine Stärkung des öffentlichen Sektors gegenüber dem privaten. Das ist durchaus umstritten, ebenso wie die von Außenminister Di Maio 2018 durchgesetzte China-freundliche Politik, die Italien als erstes EU-Land in die Seidenstraßen-Planung einbindet – ein Dorn im Auge des US- und EU-Establishments.
Die großen Medien und die versammelte Rechte (Lega, Forza Italia (FI) und Fratelli d’Italia (FdI)) machten eigentlich schon von Anfang an Propaganda gegen die Conte II.-Regierung. Als Conte nun an die direkte Ausarbeitung des Recovery-Plans (New Generation EU) ging, ein komplexes Unterfangen, für das er eine ganze Taskforce mobilisieren wollte, tönte es aus fast allen Kanälen: Conte esse delendam! Renzi schritt zur Tat: Er bezichtigte die Regierung, der er angehörte, der absoluten Unfähigkeit, setzte zwar in Verhandlungen mit den Ministern noch erhebliche Veränderungen an dem Plan durch, zog aber am 13. Januar dann doch seine beiden IV-Ministerinnen zurück. Damit war das Feuer auf Conte eröffnet.
Italiens demokratische Normen sind komplex. Es gibt kein konstruktives Misstrauensvotum, sondern verschiedenste Wege für neue Regierungsbildungen im Falle eines Scheiterns. Hier sei nur festzuhalten, dass Conte bei der folgenden Vertrauensabstimmung in beiden Kammern eine ausreichende Mehrheit erhielt, wenn auch im Senat nur eine relative – zwar eine wackelige Basis, aber eigentlich kein zwingender Grund zum Rücktritt. Doch hätte es voraussichtlich für die danach anstehende Abstimmung über die von einem M5S-Minister vorgebrachte Justizreform zum explosiven Thema der Verjährungsfrist nicht gereicht, denn diese wollen die meisten Parlamentarier eben nicht abschaffen. So legte Conte die Entscheidung über seinen Verbleib schließlich in die Hände des Staatspräsidenten. Nach tage- und nächtelangen Verhandlungen des Parlamentspräsidenten mit allen Parteien über einen möglichen erneuerten Regierungspakt – währenddessen Renzi beim saudischen Prinzen Mohammed al Salman in Riad einen hochdotierten Privat-Vortrag bei dessen Finanzfonds zur saudischen »Renaissance« hielt – ließ Renzi nach seiner Rückkehr die ganze Sache einfach platzen: Keine Übereinkunft mit Conte sei mehr möglich. Wieder übernahm der Staatspräsident das Ruder und verkündete umgehend seine Entscheidung, nun den erprobten Ex-EZB-Chef Mario Draghi mit der Sondierung der Lage für die Bildung einer breitestmöglichen Übergangs-Regierung zu beauftragen. Denn Neuwahlen seien mit der sozialen und sanitären Corona-Notlage nicht vereinbar. Renzi und auch Berlusconi jubilierten. Sie hatten Draghis Namen bereits vorab inoffiziell ins Spiel gebracht, und auch der Chef der Confindustria, ein neuer Hardliner, ist froh, dass nun vor allem »Wachstum« garantiert werden soll. Auch der CDU-Abgeordnete Marian Wendt, Partner von Forza Italia in der PPE in Brüssel, hatte die Hoffnung geäußert, Berlusconi könne in diesem dramatischen Moment für mehr Stabilität sorgen (Repubblica vom 31.1.21, S. 29).
Allein Draghis Name, des vielgelobten obersten Bankers, der sich schon in den 80er Jahren als Grand Commis für die wichtigsten Privatisierungen der Staatsindustrien eingesetzt hatte, verursachte binnen drei Tagen den Fall des berüchtigten spread um 20 Prozent (von 113 auf 93 Punkte) – das allein wird Italien etwa eine Milliarde an Zinsen auf die Staatspapiere ersparen. Die Börsenkurse stiegen EU-weit. Renzi sieht darin die beste Zukunfts-Versicherung für alle Kinder Italiens, und nach und nach stimmt sich nicht nur die bisherige Koalition, sondern auch die Rechte auf »SuperMario« als vermeintlichen Retter des Vaterlandes ein, trotz politisch unvereinbarer Interessenlagen. Wer dann daran zugrunde gehen wird, wird sich erst später zeigen. Und ob überhaupt und wie die »Regierung der Drachen« de facto aussehen und mit welchem Programm sie real antreten wird, kann man erst demnächst in Ossietzky lesen.