Unsicher stakst das Tier auf seinen dünnen Beinchen durch die Wohnung. Manchmal verliert es das Gleichgewicht und fällt einfach um, rappelt sich jedoch wieder auf und tut so, als wäre nichts gewesen. Man merkt ihm aber an, dass es sich selbst über sein Missgeschick ärgert, das es so gar nicht einordnen kann. Die einst stattliche Katze mit dem fulminanten Übergewicht ist alt geworden. Als sie hier einzog, war sie bereits eine Seniorin, die bei einer (menschlichen) Rentnerin als »Sissi« ihr eher karges Dasein fristete. Das damals zehnjährige Tier, eine dreifarbige »Glückskatze«, durfte noch nicht einmal in den Garten an die frische Luft, dabei war Sissi von jeher sowieso träge. Es war daher gar nicht anzunehmen, dass sie die kaiserliche Contenance verlieren würde und die direkte Konfrontation mit den ordinären Nachbarskatzen suchen würde. Dafür war sich die Lady dann doch ein wenig zu fein, denn eins war Sissi nämlich auch: verwöhnt, und vor allem daran gewöhnt, dass man ihr jeden Wunsch von den Augen ablas.
Doch dann stürzte die Seniorin eines Tages in ihrer Wohnung, lag hilflos auf dem Boden, bis ihre Tochter sie rettete und in ein Pflegeheim verfrachtete. Für Sissi, die verstört neben der alten Frau ausgeharrt hatte, musste also ein neues Heim gefunden werden, das sich in Form einer großen Dachgeschosswohnung mit Terrasse für das zunächst misstrauische Tier auftat. Denn die nicht mehr ganz taufrische Katze musste doch tatsächlich in die Großstadt umziehen, was sie äußerst skeptisch machte. Allein die Fahrt war schon eine Zumutung, überall so viele Autos und dann erst der Lärm! Kaum in ihrem neuen Heim angekommen entwich sie für ihr Übergewicht erstaunlich behände dem lästigen Katzenkorb, floh stante pede unter das Bett und wollte den Schutz der Dunkelheit partout nicht mehr verlassen. Alles Locken und Flehen war vergeblich, bis Sissi schließlich Hunger bekam und endlich Präsenz zeigte. Zufrieden putzte sie sich nach der üppigen Mahlzeit, erkor den Dosenöffner zu ihrem »Papa« und entschloss sich, zu bleiben.
Das ist nun fast zehn Jahre her. Aus Sissi wurde »Lissy«, die in ihrem neuen Heim aufblühte und das Regiment übernahm. Lissy bestand vehement auf einen regelmäßigen Tagesablauf, scheute sich dabei auch nicht, zu nachtschlafender Zeit ihr Futter einzufordern oder sich zu beschweren, wenn man ihr den Futternapf nicht schnell genug vor die Nase stellte. Und am liebsten hatte sie ihre Menschen kontinuierlich um sich. Kam man die Treppe herauf, konnte man sie schon hinter der Tür randalieren hören. Es ist aber auch eine Unverschämtheit, ja, nahezu Majestätsbeleidigung, eine Kaiserin allein und vor allem so lange warten zu lassen. So dachte sie sich vielleicht. Royale Attitüden hatte sie meisterlich perfektioniert, ging mit ihrer Gunst aber auch extrem wahllos um. Unvermittelt fauchte sie eines Tages grundlos eine bekennende Katzenliebhaberin an, die diese Episode nachhaltig verstörte. Die Putzfrau wiederum mochte sie, der Putztag war schnell als jour fixe in Lissys Kalender notiert.
Die Tür schließt sich, die Putzfrau geht ihrer Wege. Lissy steht ratlos im Flur, dann geht sie ins Wohnzimmer, bleibt stehen und überlegt. Zögert, geht, hält erneut inne, als wüsste sie schon nicht mehr, was sie gerade getan hat. So geht das manchmal eine ganze Zeitlang, und es ist für den Menschen nicht schön anzusehen. Oft ist sie extrem unruhig und kann nicht mehr lange an einem Ort ausharren, fordert dann noch beharrlicher und öfter als sonst ihr Futter ein. Wahrscheinlich hat sie Demenz, an der die Samtpfoten auch erkranken können, vielleicht hat sie vergessen, dass sie gerade schon ihre Mahlzeit bekommen hat.
Auch äußerlich hat sie sich verändert. Der Wandel vollzog sich zunächst schleichend, dann wurde er schnell unübersehbar. Das Fell wurde stumpf, struppig sieht sie aus, Lissi magert immer mehr ab, obwohl sie reichlich frisst, das hohe Alter fordert seinen Tribut. In gewisser Weise ist das auch ein Tabuthema, wer denkt schon gern daran, wenn er sein Katzenjunges, neudeutsch »kitten«, bekommt, dass das Tier auch einmal altern könnte? Doch wenn es dann so weit ist, zeigt sich wahre Tierliebe, weil dann großes Verständnis und viel Geduld vonnöten sind.
Genau auf diese Problematik will der diesjährige Weltkatzentag am 8. August unter anderem aufmerksam machen, der vor allem eine Würdigung des Zusammenlebens zwischen Katzenfreunden und ihrem Lieblingstier darstellen soll. Denn die Katze ist nun mal das beliebteste Haustier der Deutschen, was bei 13,04 Millionen Exemplaren, die 2020 in deutschen Haushalten lebten, nicht immer nur Harmonie mit sich bringt, sondern auch Leid und Trauer. Wenn man merkt, dass es so langsam in die Jahre kommt, wenn es krank wird, wenn man sich bald von dem Tier verabschieden muss. Auch Lissys Ende ist absehbar, in einem Monat erreicht sie das für Katzen biblische Alter von 20 Jahren. Das hat in ihrem Haushalt keine/r vor ihr geschafft, noch nicht einmal einer ihrer Vorgänger, der rustikale Kater »Billy«, dessen Leibspeise Spiegeleier waren, und der trotz dieser zur Nachahmung nicht empfohlenen Nahrungsergänzung immerhin ein Alter von sechzehn erreichte, bis eine Nierenkrankheit sein irdisches Dasein jäh beendete.
Ihre große Neugier hat Lissy sich trotz der körperlichen Gebrechen unverändert bewahrt. Vielleicht ist das ihr mentaler Jungbrunnen, ihre Zufriedenheit, die man ihr deutlich anmerkt, wenn sie so in ihrem Katzenkörbchen liegt und sinnierend mit ihren grünen Augen aus dem Fenster schaut. Was mag sie wohl denken? Denkt sie überhaupt etwas? Was geht in ihr vor? Ewige Fragen und nie eine Antwort. Lissy schweigt wie immer, schnurrt oder zuckt im Schlaf und freut sich dann ausgeruht auf die nächste Mahlzeit. Und natürlich auf die Fernsehsendung »Tiere suchen ein Zuhause«. Die schaut sie nämlich am liebsten.
Anmerkung: Nur wenige Tage nach Fertigstellung des Textes ist Lissy an Altersschwäche gestorben.