Der Jahrestag fiel aufs Wochenende. So konnte zumindest in der Hauptstadt an zwei Tagen gefeiert und demonstriert werden. Bekanntlich unterzeichneten gegen Mitternacht am 8. Mai in Berlin-Karlshorst die verbliebenen Häuptlinge des Reichs die bedingungslose Kapitulation, als in Moskau der Kalender bereits den 9. Mai 1945 zeigte. So kommt es, dass an jenem Tag die Russen traditionell den »Tag des Sieges« feiern, während die Deutschen – sofern sie die Geschichte nicht verdrängt oder vergessen haben – am 8. Mai den »Tag der Befreiung« begehen. Seit der Verschärfung des neuen Kalten Krieges kommt nun auch noch als drittes Datum der 7. Mai hinzu: An jenem Tag streckte im amerikanisch-britischen Hauptquartier im französischen Reims die Wehrmacht die Waffen – was nach westlicher Lesart das Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa bedeutete. Die Hauptmacht der Antihitlerkoalition, die Sowjetunion, bestand allerdings darauf, dass in einem zeremoniellen Akt in der deutschen Hauptstadt die deutschen Oberbefehlshaber kapitulierten. Vor den vier Siegermächten. Schließlich hatte man Hitlerdeutschland auch gemeinsam niedergerungen.
Russland als Rechtsnachfolger der Sowjetunion wurde sukzessive aus dieser Allianz hinausgedrängt, erst aus Deutschland, dann aus der Geschichte. Erinnert sei nur an die Errichtung der Zweiten Front, als deren 75. Jahrestag 2019 in der Normandie gefeiert wurde. Abgesehen davon, dass dies hierzulande in völliger Verdrehung der historischen Wahrheit zum Wendepunkt des Weltkrieges verklärt wurde (der lag nach allen gesicherten Erkenntnissen in Stalingrad und hatte sich anderthalb Jahre zuvor ereignet). Man hatte es 2019 noch nicht einmal für nötig gehalten, Russland zum »D-Day« (»Der Tag, der die Wende brachte«, Die Zeit vom 5. Juni 2019) einzuladen.
So überraschte es denn kaum noch, als am Morgen des 8. Mai 2021 beim stillen Gedenken am sowjetischen Ehrenmal in Berlin-Tiergarten die Kränze der westlichen Botschaften bereits auslagen. Sie waren wohl bereits am Vortag dorthin gebracht worden. Im Laufe des Samstags pilgerten viele Menschen auch nach Treptow, legten Blumen und Gebinde nieder und hielten Transparente hoch, auf denen in kyrillischen Lettern zu lesen war: Spassibo, Danke. Eine solche Aufschrift schmückte auch die Krone der Volksbühne am Berliner Luxemburgplatz, hingegen sah man gegenüber an der Zentrale der Linkspartei, dem Karl-Liebknecht-Haus, dergleichen nicht.
Am Sonntag legten traditionell die Botschafter jener Staaten, die aus der UdSSR hervorgegangen waren, ihre Kränze in Treptow und in Tiergarten nieder. Die baltischen Staaten und auch die Ukraine blieben wie gewohnt der Zeremonie fern. Der Kiewer Abgesandte, weniger Diplomat denn Scharfmacher, erneuerte seine Forderung an die deutsche Adresse, nicht nur separat der ukrainischen Opfer zu gedenken, sondern ihnen auch eine eigenständige Gedenkstätte zu errichten. Nun, Hitlers Eroberungs- und Vernichtungskrieg richtete sich gegen die Sowjetunion als Ganzes, die Rote Armee war eine Vielvölkerarmee. Es wurde nirgendwo Buch geführt, wie hoch der Anteil der einzelnen Völkerschaften an den vermutlich 27 Millionen Sowjetbürgern war, die in der beispiellosen deutschen Mordorgie ihr Leben verloren.
Botschafter Melnik drohte Mitte April gar, falls die Nato nicht die Ukraine aufnehme, müsse sich Kiew eben selber Atomwaffen beschaffen. »Entweder sind wir Teil eines Bündnisses wie der NATO und tragen auch dazu bei, dass dieses Europa stärker wird«, so der ideologische Brandstifter im Deutschlandfunk, »oder wir haben eine einzige Option, dann selbst aufzurüsten«. Für den Vertreter eines Landes, das wirtschaftlich völlig am Boden liegt und am Tropf des Westens hängt, scheint dies reichlich realitätsfern.
In Treptow gab’s an den beiden Tagen ein Volksfest mit viel Musik und Reden, mit Gesprächen und Begegnungen. Der Sänger einer russischen Combo trug ein sowjetisches Fliegerlied von 1939 vor, um darauf aufmerksam zu machen, dass Till Lindemann eben diese Ballade auf Russisch mit Inbrunst und Pathos singe. Zwei Videoclips des Rammstein-Vormanns – mal in der Eremitage, mal im Flieger – laufen seit Ende April auf YouTube. »Любимый город« (»Lubimiy Gorod«) heißt es, und das Lied ist aus einem Film über Michail P. Dewjatajew, einem sowjetischen Kampfflieger. Der kriegsgefangene Leutnant war im Februar 1945 mit einer Heinkel He 111 aus Peenemünde geflohen. Seit 1970 ist der hochdekorierte Held Ehrenbürger von Wolgast, und auf dem Gelände der einstigen Heeresversuchsanstalt erinnert ein Gedenkstein an ihn.
Die Rote Armee hatte im Frühjahr 1945 die rund siebzig Kilometer von der Oder bis nach Berlin unter großen Verlusten zurückgelegt, dort tobten die blutigsten Kämpfe auf deutschem Boden im gesamten Krieg. Links und rechts der heutigen B 1 finden sich unzählige Grabstätten und Friedhöfe, Denk- und Ehrenmale. Wurde auch dort an diesem Tag an die Soldaten erinnert, die Europa von Faschismus und Krieg befreit hatten und dafür ihr zumeist sehr junges Leben hingaben?
In Müncheberg, auf halbem Wege, sehe ich sehr viele Blumen und Gebinde am Fuße des überlebensgroßen Sowjetsoldaten aus rotem Granit. Vor einem unweit des Rondells mit dem Sowjetstern und den Wappen der fünfzehn Sowjetrepubliken stehenden Grabstein liegen besonders viele Nelken. Der vierte der darin eingemeißelten Namen: »Unterleutnant Beljajew 1922 – 16.4.1945«. Kurz vorm Jahrestag ist die Personalie geklärt worden. Seine Verwandten in Russland hatten jahrzehntelang erfolglos nach der letzten Ruhestätte des 22-jährigen Nikolai geforscht, der »im Raum Seelow« gefallen sei, wie man ihnen mitgeteilt hatte. Mit Hilfe der seit 2005 existierenden deutschen-russischen Freundschaftsgesellschaft »Drushba Global« war jetzt ermittelt worden, dass Beljajew sich unter den 257 in Müncheberg beigesetzten Sowjetsoldaten befindet.
Auch in Seelow, der nächsten Station, schmücken viele Gebinde und Sträuße die Monumentalplastik von Lew Kerbel – von dem auch der Marx-Kopf in Chemnitz und das Thälmann-Denkmal in Berlin stammt. Die Gedenkstätte Seelower Höhen ist an diesem Tag stark frequentiert. Der freundliche Polizist, der die Fahrzeuge einweist, sagt dazu nur: »Hoffentlich kommen von euch nicht zu viele, denn dann haben wir ein Problem.« Eine Frau hält einen Strauß, zusammengehalten vom gestreiften Georgsband, und zwei Bilder in der Hand. Das ist mein Papa, sagt sie, der andere sein Kamerad. Ihr Vater gehörte zu den etwa eine Million Sowjetsoldaten, die hier im April vier Tage lang gegen 120.000 deutsche Soldaten anrannten und schließlich den Weg nach Berlin freimachten.
Ich verstehe nicht, sagt die Frau, und der Mann an ihrer Seite mit der blauen Kippa, die die osteuropäischen Juden Jarmulke nennen, bekräftigt mit Kopfnicken: »Wieso versuchen jetzt nationalistische Eiferer uns nachträglich zu spalten?« Es war eine Sowjetarmee, und wenn es eine 1. und 2. Belorussische Front und eine 1. Ukrainische Front gab, so bezeichnete dies nicht deren ethnische Zusammensetzung oder Herkunft. In diesen Verbänden kämpften Angehörige aller Völker der Sowjetunion, der Anteil der Ukrainer in der 1. Ukrainischen Front lag nicht über dem Durchschnitt.
Die Frau spricht akzentfreies Deutsch, sie scheint schon sehr lange hier zu leben. Ihr Unverständnis über die Versuche, nachträglich die Sowjetarmee zu zerlegen, ist mindestens so groß wie der Unmut ihres Mannes über die deutsche Regierungspolitik gegenüber Russland und die Verweigerung, an den 80. Jahrestag des deutschen Überfalls angemessen zu erinnern. Der Mann sagt, das Verhältnis Deutschlands zu den Juden und zum Staat der Juden speise sich aus der geschichtlichen Verantwortung. Das russische Volk verdiene in gleicher Weise beachtet und respektiert zu werden, egal, wer im Kreml regiert. Vielleicht seien die Spannungen ja doch nicht so politisch motiviert, wie vordergründig behauptet, sondern haben einen ganz anderen Ursprung, meint der Mann und legt die Blumen nieder.
Vielleicht hat sich Stalin ja geirrt. »Der jahrhundertelange Kampf der slawischen Völker um ihre Existenz und Unabhängigkeit hat mit dem Sieg über die deutschen Okkupanten und die deutsche Tyrannei geendet. Von nun an wird das große Banner der Völkerfreiheit und des Völkerfriedens über Europa wehen«, hatte er in seiner Ansprache am 9. Mai 1945 erklärt. »Die Periode des Krieges in Europa ist zu Ende. Die Periode der friedlichen Entwicklung hat begonnen.«