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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Späte Entdeckung

Der Raum ist bre­chend voll. Vie­le ein­sti­ge Weg­ge­fähr­ten sind dar­un­ter. Man­che lagen sich vor Beginn der Ver­an­stal­tung in den Armen – augen­schein­lich hat­ten sie sich sehr lan­ge nicht gese­hen. Ein Klas­sen­tref­fen, wie es zunächst aus­schaut. Und dann wird es eine berüh­ren­de, gera­de­zu herz­zer­rei­ßen­de Lesung, die eini­gen Anwe­sen­den – selbst gemein­hin wenig dünn­häu­ti­gen Par­la­men­ta­ri­ern – die Trä­nen in die Augen trei­ben soll­te. Die beken­nen­de Kom­mu­ni­stin Ellen Brom­ba­cher, 75, hat ein Buch über ihre Eltern ver­fasst. Aus der Fami­lie ihrer Mut­ter wur­den vier­zig Ange­hö­ri­ge Opfer des Holo­causts. Hil­de Mey­er­stein, die Mut­ter, kämpf­te im anti­fa­schi­sti­schen Wider­stand in Bel­gi­en und in den Nie­der­lan­den; Ernst Har­ter, der Vater, über­leb­te Sach­sen­hau­sen und Maut­hau­sen. Sei­nen Bru­der Franz, Brom­ba­chers Onkel, ermor­de­ten die Nazis im KZ Sach­sen­hau­sen, indem sie den Schwer­kran­ken über die Schuh­test­strecke hetzten.

Ellen Brom­ba­cher kam mit ihrer Mut­ter 1959 aus dem Ruhr­ge­biet in die DDR, wohin der Vater nach dem KPD-Ver­bot Jah­re zuvor hat­te flüch­ten müs­sen. Sie mach­te hier Abitur, stu­dier­te im Abend­stu­di­um an der Hum­boldt-Uni­ver­si­tät Rus­si­stik, arbei­te­te haupt­amt­lich im Jugend­ver­band und in der Par­tei, zuletzt als für die Kul­tur zustän­di­ger Sekre­tär der Ber­li­ner Bezirks­lei­tung der SED (eine weib­li­che Bezeich­nung für die­se Funk­ti­on gab es nicht: ver­mut­lich, weil sie eher sel­ten von Frau­en aus­ge­übt wur­de). Nach dem Son­der­par­tei­tag der SED im Dezem­ber 1989, den sie noch mit vor­be­rei­ten half, schied sie aus der Poli­tik aus – und begann als Küchen­hilfs­kraft in einem Ber­li­ner Kin­der­gar­ten. Dort wur­de Ellen Brom­ba­cher nach Jah­res­frist vom Bezirks­amt Mit­te gefeu­ert. »Es ist der demo­kra­tisch kon­trol­lier­ten Ver­wal­tungs­lei­tung und vor allem den zu betreu­en­den Bür­gern nicht zuzu­mu­ten, an einem Arbeits­ver­hält­nis mit einem ehe­mals expo­nier­ten Par­tei­funk­tio­när fest­zu­hal­ten«, hieß es zur Begrün­dung der frist­lo­sen Kün­di­gung. (In der Dis­kus­si­on nach der Lesung for­der­te einer der Zuhö­rer auf, dass ein­mal alle auf­ste­hen soll­ten, die in die­ser ersten »demo­kra­ti­schen Säu­be­rungs­wel­le« nach der »Wen­de« ihre Arbeit unter ähn­li­chen Umstän­den ver­lo­ren hat­ten. Nahe­zu der hal­be Saal erhob sich.)

Aber nur indi­rekt waren die unge­bro­che­nen Tra­di­tio­nen – sowohl die des sozia­li­stisch-kom­mu­ni­sti­schen, anti­fa­schi­sti­schen Wider­stan­des wie auch der anti­kom­mu­ni­sti­schen Ver­fol­gung – das The­ma des Abends.

Die Mey­er­steins waren in Brem­ke, einem Dorf bei Göt­tin­gen, seit Jahr­hun­der­ten ansäs­sig, die jüdi­sche Bevöl­ke­rung mach­te mehr als zwan­zig Pro­zent der Ein­woh­ner­schaft aus, als die faschi­sti­sche Dik­ta­tur errich­tet wur­de. »Bei allen Namen ist das Datum ihrer ›Abfahrt‹ exakt ange­ge­ben, von 29 Depor­tier­ten (der Fami­lie Mey­er­stein – F. S.) weiß nie­mand, wohin sie gebracht wur­den und wo sie zu Tode kamen. Sie sind ein­fach ›ver­schol­len‹.« So heißt es in Brom­ba­chers Buch lakonisch.

Die­ses besteht aus eige­nen Erin­ne­run­gen und Kom­men­ta­ren, aus Fami­li­en­zeug­nis­sen und Brie­fen – geschrie­ben in Ghet­tos, Zucht­häu­sern und Kon­zen­tra­ti­ons­la­gern. Die Fül­le ist beacht­lich, der Inhalt der Kor­re­spon­den­zen wühlt auf, Brom­ba­chers Tex­te neh­men einem mit­un­ter die Luft. Einer der beweg­ten Zuhö­rer meint, die­ses Buch käme zu spät, es hät­te frü­her kom­men sol­len. Brom­ba­cher erwi­dert, sie habe einen zeit­li­chen Abstand gebraucht, um alles zu ver­ar­bei­ten. Aber ist der Zeit­punkt des Erschei­nens wirk­lich so wich­tig, fragt sie zurück. Anti­se­mi­tis­mus und Rechts­extre­mis­mus sei­en gegen­wär­tig, Wider­stand zu allen Zei­ten nötig. Und sie erzählt davon, als sie in Wester­holt, weni­ge Tage vor ihrer Aus­rei­se aus der BRD, Besuch von zwei Poli­zei­be­am­ten bekam, die einen hal­ben Tag lang ihre Woh­nung durch­such­ten. Wegen »Gefahr im Verzuge«.

»Als sie sich alle im Besitz mei­ner Eltern befind­li­chen Fotos anschau­ten, so wie sie vor­her jedes Hand­tuch und jedes Wäsche­stück demon­stra­tiv aus­ein­an­der­ge­fal­tet hat­ten, ent­deck­ten sie das Bild von Julie und Ivan Meyerstein.

Wer das sei, frag­ten die Beam­ten, und als mei­ne Mut­ter die­se Fra­ge beant­wor­tet und erklärt hat­te, dass ihre Eltern ins War­schau­er Ghet­to depor­tiert wor­den waren, erkun­dig­ten sie sich nach deren wei­te­ren Ver­bleib. ›Wahr­schein­lich wur­den sie in Ausch­witz ver­gast‹, sag­te mei­ne Mutter.
›Oh, das tut uns leid‹, kam es unisono.
›Davon mer­ke ich nichts‹, erwi­der­te mei­ne Mut­ter sarkastisch.
Am Ende der Durch­su­chung fer­tig­ten die Beam­ten ein Pro­to­koll an und baten mei­ne Mut­ter, die­ses zu unterschreiben.
Sie lehn­te das Ansin­nen ab. ›Ich den­ke nicht dar­an, Ihr Vor­ge­hen durch mei­ne Unter­schrift noch zu legitimieren.‹
›Lini­en­treu‹, kom­men­tier­te einer der Polizisten.
Von Mit­leid, das sie ange­sichts des Schick­sals der Groß­el­tern pflicht­schul­dig geheu­chelt hat­ten, war kei­ne Rede mehr.«

Ellen Brom­ba­cher: Deutsch-jüdi­sches Fami­li­en­bild. Mei­ne Kind­heits­mu­ster und Prä­gun­gen, Ver­lag Neu­es Leben, Ber­lin 2022, 247 S., 18 €.