Der Raum ist brechend voll. Viele einstige Weggefährten sind darunter. Manche lagen sich vor Beginn der Veranstaltung in den Armen – augenscheinlich hatten sie sich sehr lange nicht gesehen. Ein Klassentreffen, wie es zunächst ausschaut. Und dann wird es eine berührende, geradezu herzzerreißende Lesung, die einigen Anwesenden – selbst gemeinhin wenig dünnhäutigen Parlamentariern – die Tränen in die Augen treiben sollte. Die bekennende Kommunistin Ellen Brombacher, 75, hat ein Buch über ihre Eltern verfasst. Aus der Familie ihrer Mutter wurden vierzig Angehörige Opfer des Holocausts. Hilde Meyerstein, die Mutter, kämpfte im antifaschistischen Widerstand in Belgien und in den Niederlanden; Ernst Harter, der Vater, überlebte Sachsenhausen und Mauthausen. Seinen Bruder Franz, Brombachers Onkel, ermordeten die Nazis im KZ Sachsenhausen, indem sie den Schwerkranken über die Schuhteststrecke hetzten.
Ellen Brombacher kam mit ihrer Mutter 1959 aus dem Ruhrgebiet in die DDR, wohin der Vater nach dem KPD-Verbot Jahre zuvor hatte flüchten müssen. Sie machte hier Abitur, studierte im Abendstudium an der Humboldt-Universität Russistik, arbeitete hauptamtlich im Jugendverband und in der Partei, zuletzt als für die Kultur zuständiger Sekretär der Berliner Bezirksleitung der SED (eine weibliche Bezeichnung für diese Funktion gab es nicht: vermutlich, weil sie eher selten von Frauen ausgeübt wurde). Nach dem Sonderparteitag der SED im Dezember 1989, den sie noch mit vorbereiten half, schied sie aus der Politik aus – und begann als Küchenhilfskraft in einem Berliner Kindergarten. Dort wurde Ellen Brombacher nach Jahresfrist vom Bezirksamt Mitte gefeuert. »Es ist der demokratisch kontrollierten Verwaltungsleitung und vor allem den zu betreuenden Bürgern nicht zuzumuten, an einem Arbeitsverhältnis mit einem ehemals exponierten Parteifunktionär festzuhalten«, hieß es zur Begründung der fristlosen Kündigung. (In der Diskussion nach der Lesung forderte einer der Zuhörer auf, dass einmal alle aufstehen sollten, die in dieser ersten »demokratischen Säuberungswelle« nach der »Wende« ihre Arbeit unter ähnlichen Umständen verloren hatten. Nahezu der halbe Saal erhob sich.)
Aber nur indirekt waren die ungebrochenen Traditionen – sowohl die des sozialistisch-kommunistischen, antifaschistischen Widerstandes wie auch der antikommunistischen Verfolgung – das Thema des Abends.
Die Meyersteins waren in Bremke, einem Dorf bei Göttingen, seit Jahrhunderten ansässig, die jüdische Bevölkerung machte mehr als zwanzig Prozent der Einwohnerschaft aus, als die faschistische Diktatur errichtet wurde. »Bei allen Namen ist das Datum ihrer ›Abfahrt‹ exakt angegeben, von 29 Deportierten (der Familie Meyerstein – F. S.) weiß niemand, wohin sie gebracht wurden und wo sie zu Tode kamen. Sie sind einfach ›verschollen‹.« So heißt es in Brombachers Buch lakonisch.
Dieses besteht aus eigenen Erinnerungen und Kommentaren, aus Familienzeugnissen und Briefen – geschrieben in Ghettos, Zuchthäusern und Konzentrationslagern. Die Fülle ist beachtlich, der Inhalt der Korrespondenzen wühlt auf, Brombachers Texte nehmen einem mitunter die Luft. Einer der bewegten Zuhörer meint, dieses Buch käme zu spät, es hätte früher kommen sollen. Brombacher erwidert, sie habe einen zeitlichen Abstand gebraucht, um alles zu verarbeiten. Aber ist der Zeitpunkt des Erscheinens wirklich so wichtig, fragt sie zurück. Antisemitismus und Rechtsextremismus seien gegenwärtig, Widerstand zu allen Zeiten nötig. Und sie erzählt davon, als sie in Westerholt, wenige Tage vor ihrer Ausreise aus der BRD, Besuch von zwei Polizeibeamten bekam, die einen halben Tag lang ihre Wohnung durchsuchten. Wegen »Gefahr im Verzuge«.
»Als sie sich alle im Besitz meiner Eltern befindlichen Fotos anschauten, so wie sie vorher jedes Handtuch und jedes Wäschestück demonstrativ auseinandergefaltet hatten, entdeckten sie das Bild von Julie und Ivan Meyerstein.
Wer das sei, fragten die Beamten, und als meine Mutter diese Frage beantwortet und erklärt hatte, dass ihre Eltern ins Warschauer Ghetto deportiert worden waren, erkundigten sie sich nach deren weiteren Verbleib. ›Wahrscheinlich wurden sie in Auschwitz vergast‹, sagte meine Mutter.
›Oh, das tut uns leid‹, kam es unisono.
›Davon merke ich nichts‹, erwiderte meine Mutter sarkastisch.
Am Ende der Durchsuchung fertigten die Beamten ein Protokoll an und baten meine Mutter, dieses zu unterschreiben.
Sie lehnte das Ansinnen ab. ›Ich denke nicht daran, Ihr Vorgehen durch meine Unterschrift noch zu legitimieren.‹
›Linientreu‹, kommentierte einer der Polizisten.
Von Mitleid, das sie angesichts des Schicksals der Großeltern pflichtschuldig geheuchelt hatten, war keine Rede mehr.«
Ellen Brombacher: Deutsch-jüdisches Familienbild. Meine Kindheitsmuster und Prägungen, Verlag Neues Leben, Berlin 2022, 247 S., 18 €.