… und ich begehre, nicht schuld daran zu sein! Ganz in der Nähe meiner Wohnung lebt die verfolgte sudanesische Schriftstellerin Stella Gaitano. Sie wartet auf die Ankunft ihrer beiden Söhne und fühlt sich ansonsten sicher in der kleinen Stadt Kamen.
Bei einer öffentlichen Lesung in der Stadtbücherei trug sie eine Erzählung über ihr Leben im Sudan vor. Dreißig Jahre Leben im Bürgerkrieg. Keine Familie ohne Kriegsopfer. Alle Zuhörer waren gerührt, alle auch erstaunt darüber, dass Stella trotz allem ein optimistischer Mensch geblieben ist und gerne lacht.
Aber Sudan, das haben wohl alle gedacht, ist weit weg. Es berührt uns emotional, aber nicht existenziell. Doch dann kam der 24. Februar, der Überfall Russlands auf die Ukraine. Da war der Krieg vor der Haustür, wie zum Greifen nah. Und plötzlich fing ich an, Ereignisse im Zusammenhang zu sehen, deren Einzelteile mir natürlich bekannt waren. Bekannt, aber nicht wirklich bewusst.
Der erste Mann meiner Oma mütterlicherseits starb an der Spanischen Grippe. Drei kleine Mädchen hatte sie, und es war klar, dass sie noch mal heiraten musste. Dieser Ehe entstammte ein Sohn, Heinz, der fast so hieß wie ich heiße. Er war ein kluger Junge, sein Zeugnis hing als Vorbildbeispiel beim Arbeitsamt aus, erzählte mir meine Cousine. Er war ein Talent. Ganz jung wurde er eingezogen, wurde krank, kam ins Kamener Krankenhaus, und als sich englische Flieger der Stadt näherten, ist er nicht in den Bunker gebracht worden. Mal wurde gesagt, er hätte das nicht gewollt, der Angriff wäre schnell vorüber, hätte er vermutet. Vielleicht ging es auch gar nicht in der Kürze der Zeit, alle in den Bunker zu bringen, jedenfalls traf eine Bombe das Krankenhaus und zwanzig Menschen starben. Darunter mein Onkel, gerade mal einundzwanzig Jahre alt. Für meine Oma war es, als steckte ein Stein in ihrer Brust, der sich nicht lösen wollte.
Ihre jüngste Tochter, Schwester meiner Mutter, heiratete kurz vor Kriegsende. Es gibt ein Hochzeitsfoto und zeigt neben ihr einen Mann, der mir fremd ist. Er kam nicht zurück aus dem Krieg. Ihm folgte mein Onkel Franz, zwei Kinder kamen. Meine Cousine und mein Vetter. Die kannte und kenne ich gut.
Keine Familie ohne Kriegsopfer.
Am buchstäblich letzten Kriegstag starben die einzige Schwester meines Vaters und ihr Mann. Sie hatten, weil es in ihrem Haus keinen Keller gab, sich beim Nachbarn in Sicherheit gebracht. Als der Beschuss aus Richtung Nachbarstadt aufhörte, sind sie nach Hause gegangen, genau in dem Moment, als die Schießerei wieder einsetzte. Der Schwager meines Vaters, also mein Onkel, starb an einem Bauchschuss, meiner Tante wurde von einem Splitter die Fingerkuppe abgetrennt. Mein Vetter war ganz jung, am Sonntag darauf wollte er seine Mutter im Krankenhaus besuchen, da war auch sie tot. Blutvergiftung, es gab keine Medizin.
Keine Familie ohne Kriegsopfer.
Bei meinem Vater waren es mehrere glückliche Zufälle, die ihm das Leben retteten und damit auch meines möglich machten, der ich nach dem Krieg geboren wurde. Nicht geboren zu werden, übersteigt jede Vorstellungkraft.
Plötzlich wurde mir das alles bewusst, plötzlich sah ich Einzelereignisse im Zusammenhang.
Und sah dann auf meine eigene kleine Familie. Ich bin Vater von drei Söhnen. Ein Krieg, sagen wir um 2010, und alle wären eingezogen worden. Wer wäre zurückgekehrt, wäre es überhaupt einer gewesen? Ich erschrak und wollte den Gedanken verdrängen. Aber ich schaffte es nicht.
Da hat Russland die Ukraine überfallen, und plötzlich ist das Selbstverständliche nicht mehr selbstverständlich. Der Krieg in der Ukraine hat unserem Leben die Unschuld genommen, plötzlich bin ich Stella Gaitano viel näher, als ich es je geglaubt habe. Über 75 Jahre Frieden bisher, was für ein Glück. Und plötzlich wird der brüchig.
Ich kann mir Leben nur vorstellen, indem es weitergeht, immer weitergeht. Mein individuelles ist begrenzt, aber in meinen Söhnen lebt manches von mir weiter. Und jetzt, seit knapp einem Jahr, auch in meinen Enkeln. Zwei sind schon da, eine Enkeltochter ist unterwegs.
Das ist es, was ich Putin neben allem anderem, auch vorwerfe. Er hat Unsicherheit ausgelöst. Er hat das beruhigende Gefühl zerstört, dass auf jeden Morgen ein anderer folgt. Bei mir, bei meinen Söhnen und bei meinen Enkeln.
Er hat zusätzlich ein furchtbares Wettrüsten angefacht. Hundert Milliarden Euro für die Bundeswehr, man stelle sich das vor! Und plötzlich sind sie alle wieder da, die die Probleme der Welt mit Gewalt lösen wollen, immer nur mit Gewalt. Noch mehr Panzer, noch mehr Raketen. Kein Raum mehr für besonnene Stimmen. Und die, die mehr Waffen fordern, fühlen sich absolut sicher, sind nicht erreichbar für stillere Töne. Erschreckend, deprimierend.
Ich bin zum Grab meiner Eltern gegangen. Ich kann mir Leben nur so vorstellen, dass es weitergeht. Das nachfolgende Gedicht stellte sich wie von selbst ein:
Der schwarze Stein, glitzernd
im Sonnenlicht, beweist
ihr hattet mal gelebt
und durch euch ich, durch
mich die anderen, die um mich
sind und die, die folgen werden
und steh vor diesem Stein
und red mit ihm und red
mit euch, erzähle alles
was ich mache, was meine
Kinder tun und wie die
kleinen Enkel wachsen, bleibt
ihr bei uns, steh ich vor
euch, steh vor dem Stein
ich bin euch nah und fühle
wie ich euch erreiche
und merke, wie mein Wort
verfliegt. Ihr seid so fern
und doch so nah, bleib ich
bei euch, solang ich lebe
Die Kette darf nicht abreißen. Bei niemandem.