Als einen »in Berlin gebürtigen Sachsen« bezeichnet sich der gerade 90 Jahre jung gewordene Nestor der politischen DDR-Karikatur und Porträtist Harald Kretzschmar. Darin unterscheidet er sich von seinem Berufskollegen Heinrich Zille, der sich mit Fug und Recht als einen in Sachsen gebürtigen Berliner bezeichnen könnte, weil seine wichtigsten Lebens- und Schaffensstationen in Berlin-Lichtenberg und in der Sophie-Charlotten-Straße in Westend stattfanden. Beide standen sich also trotz zeitlichen Abstands nicht nur künstlerisch, sondern auch lokalkoloristisch recht nahe.
In Steglitz am 23. Mai 1931 geboren, legte der damals noch unbärtige Harald Kretzschmar sein Abitur an der Dresdener Kreuzschule ab und besuchte in Leipzig die Hochschule für Graphik und Buchkunst. Sein erstes Nachkriegs-Theatererlebnis in der bis auf die Grundmauern zerstörten Kunststadt Dresden beeindruckte ihn nicht nur der hoffnungslosen äußeren Umstände wegen. Es waren die humanistischen Positionen des weisen Nathan und die Darsteller um Erich Ponto, die seine Liebe zum Theater prägten.
1954 erschienen seine ersten Karikaturen in der Leipziger Volkszeitung, und von 1955 bis 1991 gehörte er unverzichtbar zum Eulenspiegel-Kernteam.
1956 ließ er sich endgültig und freischaffend im märkischen Kleinmachnow nieder, wo er hoffentlich noch ewig zu Hause sein kann. Über seine Freunde und Nachbarn und das Image des Ortes verfasste er 2008 das »Paradies der Begegnungen – der Künstlerort Kleinmachnow«. Von dort aus betreibt er seitdem und unbremsbar sein darstellerisches und provokantes grafisches und publizistisches Hand- und Kopfwerk. Im »Verband Bildender Künstler der DDR« war Harald Kretzschmar Vorsitzender der Zentralen Sektionsleitung Karikaturen. 1975 mitbegründete er im vogtländischen Greiz, Geburtsort des Satirikers Hansgeorg Stengel, im Sommerpalais der Reußen das SATIRICUM, dem er seither die Treue hält. Das unscheinbare Hotel am Rande des Stadtparkes, von dem aus er gewöhnlich unter alten Bäumen an der »Weißen Elster« entlang den Fußweg zu den Sammlungen und aktuellen Ausstellungen einschlägt, verrät mehr über seine Persönlichkeit als seine biografischen Selbstzeugnisse. Wer neugieriger ist, schlage nicht bei Shakespeare, sondern in seinem »alternativen Künstlerreport« nach. »Stets erlebe ich das Falsche«, bekennt er dort. Wer noch genauer hinschauen will, muss sich etwas Zeit nehmen, denn, so verriet es der vielseitige Künstler der jungen Welt im Juni 2019: »Wenn ich zeichne, dann quatsche ich nicht.«
Hohe Anerkennung verdienen seine Bemühungen, den Blick über die nicht mehr vorhandene Mauer zu richten und die ehemalige andere deutsche Landschaft damit zu konfrontieren, dass es nordöstlich der Elbe auch Satire per Zeichenstift gab. Das bezeugte u. a. die im Wilhelm-Busch-Museum Hannover veranstaltete Ausstellung »Harald Kretzschmar – Zeichner und Sammler«. Wie hoch der künstlerische und organisatorische Aufwand für derartige Veranstaltungen ist, wie wichtig sie aber auch sind, kann ich aus den Erfahrungen unserer Zimmertheater-Gastspiele in Lübeck, Erlangen und anderswo nur bestätigen.
Als Feuilletonist und Publizist, vor allem beim Weltbühnen-Nachfolger Ossietzky, rief und ruft der gradlinige Autor Kretzschmar mitunter Widerspruch hervor. Aber er kann sich auch mit dem Vorwurf der Pinseligkeit auseinandersetzen – wozu ist er schließlich ein Mann der Feder – und über den eigenen Schatten springen. In Berlin und in seinem näheren und weiteren Umfeld initiierte er zahlreiche thematische Ausstellungen, lud zu Vernissagen und Finissagen ein, stellte dabei unveröffentlichte eigene Texte vor und kooperierte mit anderen Autoren, zum Beispiel dem Schreiber dieser Würdigung. Das war im Jahre 2005, stand unter dem Motto »Spaßgesellschaft olè« und fand im Kulturhaus Lichtenberg im Zusammenwirken mit dem Zimmertheater Karlshorst statt. Der unermüdliche Harald Kretzschmar holte Senioren wie Henry Büttner aus ihrer selbstgewählten Zurückgezogenheit, verhalf Künstlerinnen wie der sarkastischen Franziska Becker zu höherem Bekanntheitsgrad in den »neuen« Bundesländern und ermunterte Nachwuchskünstler wie Christiane Pfohlmann zur individuellen Profilierung in der Tageskarikatur. Dass überdies manch ein Besucher mit seinem persönlich zugeeigneten Konterfei derartige Treffen verließ, sei nur nebenbei vermerkt.
Und er gab originelle Bücher und unverwechselbare Kompendien heraus und hielt die eigenwilligen Züge und Charakteristika von Künstlern des Schreibtischs und der Bühne für die Mit- und Nachwelt fest. Mit seinem »alternativen« Künstlerreport »Stets erlebe ich das Falsche« stößt er allerdings ein Problemfeld an, das über Rückbesinnungen anlässlich eines Lebens- und Schaffensjubiläums weit hinausgeht.
Der Name Harald Kretzschmar begegnete mir erstmalig Ende der 1950er Jahre, als ich nach dem Staatsexamen in den DDR-Schuldienst eingestiegen wurde und meiner noch nicht ausgeprägten satirischen Ader durch das Studium des damals einwöchig erscheinenden Eulenspiegels neue Impulse verpassen wollte. Dabei halfen mir Behling, Büttner, Bofinger, Klemke und eben Kretzschmar.
Dann lernte ich ihn persönlich durch Ausstellungen kennen, durch die grafische Umrahmung eines Kabarett-Programms des Zimmertheaters schätzen, begegnete ihm häufig bei den jährlichen Treffen der Ossietzky-Leser und -Autoren anlässlich des Geburtstages des Namensgebers am 3. Oktober und gewöhnte mich an unsere gegenseitigen familiären Neujahreswünsche per Text und Bild.
Jetzt muss ich zum Ende kommen. Es könnte ja sein, dass der Chefredakteur noch andere Ereignisse in petto hat. Und eine Laudatio für Harald Kretzschmar wäre selbst in einem thematischen Heft nicht gebührend abzuarbeiten. Eines aber muss und will ich noch anmerken: Aus der Vielzahl der Editionen mit und über Harald Kretzschmar gehört »Grüß Gott! Da bin ich wieder! Karl Marx in der Karikatur«, EULENSPIEGEL-Verlag, Berlin 2008, besonders hervorgehoben. »Seht mal an – welch ein Mensch« wird darin Harald Kretzschmar zitiert, und er zielt natürlich auf Karl Marx. Auf ihn selber träfe das aber ebenso zu.