Den meisten Lesern und Leserinnen von Ossietzky wird Dietrich Kittner gut bekannt sein – als Kabarettist und als langjähriger Autor unserer Zweiwochenzeitschrift. Vor ein paar Tagen fand eine kleine Veranstaltung zur Erinnerung an ihn in seiner Heimatstadt Hannover statt. Das ver.di-Bildungswerk hatte eingeladen zum »Porträt der Kabarettlegende«. Der langjährige hannoversche Oberbürgermeister Herbert Schmalstieg und die Kittner-Biografin Sylvia Remé saßen auf der Bühne, Rainer Butenschön führte durch das Gespräch.
Ein kurzer Abend und zwei Zeitzeugen reichen jedoch nicht, um die Kittners – Christel ist unbedingt auch zu erwähnen – halbwegs angemessen zu würdigen. Wie schwierig das ist, wird im »Requiem für Dietrich Kittner« sichtbar, das Guido Zingerl in Ossietzky 5/2013 nach dem Tod von Dietrich schrieb und wozu er viele Attribute benötigt: »Ach Kittner, Kabarettist, Leid-Artikler, Satiriker, Texter, tab-Macher, Freund, Genosse, Bürgerrechtler, Dissident und Agitator (…)« – die Anrede »Genosse« bezog sich dabei nicht auf die SPD, aus der Dietrich Kittner Anfang der 1970er Jahre ausgeschlossen wurde.
Bürgerrechtler war Kittner, bevor dieser Begriff populär wurde. Der hannoversche Club Voltaire, von den Kittners mit »Apo-Theke« bewirtschaftet, war ebenso wie später das tab, das »Theater an der Bult«, ein Ort der Diskussion und der Planung von Bürgerrechtsaktionen. Dort wurden Bündnisse geschmiedet – von SDS, DKP und Gewerkschaften bis hin zu bürgerlichen Demokraten, engagierten Kirchenleuten und Journalisten wie Eckart Spoo. Die zunächst sehr erfolgreiche Aktion »Roter Punkt« ist dafür ein herausragendes Beispiel ebenso wie Antikriegsaktionen oder Aktionen gegen Berufsverbote.
Insoweit ist Herbert Schmalstieg als damaligem Oberbürgermeister tatsächlich zu danken, dass er sich nicht an der Hexenjagd der Staatsmacht und dem Boykott der großen Medien beteiligt hat, dass er der kritischen und bissigen Kultur in dieser Stadt öffentlich Raum ließ.
Ich erinnere mich an viele Begegnungen und Gespräche mit Dietrich, da geht es mir wie Rainer Butenschön, der im Vorwort zur Biografie schreibt: »Mein Freund Dietrich – er war für mich vor allem auch eins: Ein wichtiger Lehrer, ein Lehrer nicht nur in gesellschaftlicher Analyse, die als Dreh- und Angelpunkt die Eigentumsverhältnisse in den Blick zu nehmen hat.«
Eine erste Begegnung mit Kittner hatte ich als junger Gewerkschafter, als er damals, 1967, auf dem völlig neuen hannoverschen Flohmarkt am Leineufer ein lebensgroßes Plakat des Pfauenthrones samt Schah von Persien in Paradeuniform aufstellte, um, nach der Ermordung von Benno Ohnesorg, allen die Gelegenheit zur Majestätsbeleidigung zu geben. Hunderte faule Eier und Tomaten flogen auf den von der Bundesregierung gefeierten Staatsgast und grausamen Herrscher Persiens. Die Staatsmacht kapitulierte angesichts der vielen Selbstanzeigen. Diese Aktion war nicht der Beginn der außerparlamentarischen Opposition, die Ostermärsche und die Proteste gegen den Krieg der USA in Vietnam gab es schon länger, aber es war zumindest für Hannover die Ouvertüre für die Revolte von 1968.
Mein letztes Gespräch mit Dietrich war ein Anruf von ihm, der mich im April 2012 erreichte: Ver.di bestreikte die ÜSTRA, die hannoverschen Verkehrsbetriebe, kurz vor Messezeit, um möglichst viel Druck auszuüben. Die hannoverschen Zeitungen riefen Autofahrer auf, zu helfen, den Streik zu brechen: Mit einem Roten Punkt sollten Fahrgäste zur Mitfahrt eingeladen werden: ein traditionsreiches Symbol der gegenseitigen Hilfe in Ausnahmesituationen. So okkupierte die Hannoversche Allgemeine Zeitung dieses Symbol: »Drucken Sie den Roten Punkt aus und befestigen Sie ihn an Ihrem Auto. Damit zeigen Sie: Sie bieten anderen gerne eine Mitfahrgelegenheit.« Diesen Missbrauch der schönen bürgerrechtlichen Tradition des Roten Punktes registrierte Kittner im Krankenbett und forderte mich per Telefon dringend auf, die Partnerinnen und Partner des Roten Punktes zu alarmieren, den Streikbruch als solchen zu diskreditieren und so die Gewerkschaft in ihrem Kampf zu unterstützen.
Das ist ohnehin der rote Faden im Leben und Wirken von Dietrich und Christel: Solidarität!
Der Abend mit Herbert Schmalstieg konnte vieles aus dem Leben und Schaffen von Dietrich und Christel nicht vermitteln. Und die Biografie von Sylvia Remé hat mich ziemlich enttäuscht, ohne dass ich genauer sagen könnte, woran es liegt. Vielleicht daran, dass die Autorin überwiegend aus schriftlichen Quellen schöpfte? Vielleicht auch an der Auswahl von Personen, mit denen sie sprach: Viele seiner engsten Freunde tauchen im Personenregister nicht auf. Vielleicht liegt es auch daran, was sie selbst in der Einleitung schreibt: »Das Buch hätte dennoch nicht ohne die finanzielle Unterstützung zahlreicher Förderer erscheinen können.« Mein Unwohlsein fasste Lars Johansen besser in Worte, der in Hannover groß gewordene und in Magdeburg lebende und agierende Künstler: »Ich war als Südstädter, seitdem ich etwa 14 oder 15 war, im tab, also dem Theater an der Bult. (…) Ich habe ihn als Teenager bewundert. Er ist also definitiv eines meiner Vorbilder. Die Biografie habe ich erworben und versucht zu lesen. Die ist mir völlig fremd vorgekommen. (…) Kittner war in Hannover ein echter Star, nicht nur der Gegenkultur. Ohne ihn kein roter Punkt, und wenn er beim Altstadtfest auftrat, dann kamen die Massen.«
Als Weihnachtsgeschenke in dieser Zeit sehr zu empfehlen: »Sehr geehrte Drecksau« – Dietrich Kittner live auf CD. Oder, wenn die Pandemie vorüber sein sollte: Eine Entspannungswoche im österreichischen Exil von Christel und Dietrich, dem Hollerhof in Dedenitz: https://hollerhof.at/.