Seit Ende September dürfen auch Homosexuelle in der Schweiz die Freuden der Ehe erleben. Die gleichgeschlechtliche Heirat wurde eingeführt, das Volk hat per Abstimmung darüber entschieden. Damit hat die Schweiz nun doch noch den Sprung in die Moderne geschafft.
Doch einfach war es nicht. Immerhin dürfen Frauen erst seit 1990 in allen Kantonen des Landes wählen. Dass sie jetzt, schon dreißig Jahre danach, auch noch wirklich frei über ihren Partner beziehungsweise ihre Partnerin entscheiden dürfen: ein großer Schritt. Immerhin ist die Schweiz ein tief gespaltenes Land. Nicht nur zwischen Gestrigen und Vorgestrigen verläuft ein tiefer kultureller Graben. Auch die einzelnen Sprachgruppen trennen mehr als nur die Alpen. Zwar neigt man in der Deutschschweiz und dem eher liberalen, französischsprachigen Westen traditionell den großen Nachbarländern zu, in denen die Ehe für alle seit zumindest ein paar Jahren gilt. Im italohelvetischen Tessin orientiert man sich aber eher an Rom, und von dort war bislang noch kein »Si« zum Bund von Mann und Mann zu hören.
Um die Harmonie zu bewahren, versuchte das Parlament im vergangenen Jahr, die Ehe für alle möglichst unbemerkt im Vorweihnachtstrubel einzuführen. Am 18. Dezember erging der Beschluss, doch die Skeptiker begehrten auf. Innerhalb von 100 Tagen sammelten sie mehr als 50.000 Unterschriften gegen den Entscheid. Der wurde dadurch ungültig und die Frage ging direkt an das Volk.
Die bevorstehende Abstimmung heizte die Stimmung in dem eher friedliebenden Land enorm an. In Zürich, Basel und Genf hingen allerorts Regenbogenfahnen aus den Fenstern, und Unternehmen wiesen sich per Sticker als LGBTQ-freundlich aus. Andernorts reichte schon ein Kuss, um den geballten Frust des Trottoirs auf sich zu ziehen. Immerhin wurden die zahlreichen Übergriffe auf Schwule und Lesben zum Anlass genommen, um mal öffentlich darüber nachzudenken, ob solche Delikte irgendwie registriert werden sollten. Bis heute wissen allerdings nicht einmal die so zählfreudigen Aktivisten von »Human rights« genau, wie oft es in der Schweiz zu Gewalt gegen Gleichgeschlechtliche kommt.
Am Ende hat am Tag der Entscheidung die urbane Schweiz über die Alpentäler gesiegt. Jeder zweite Eidgenosse ging zur Urne, zwei Drittel stimmten für die Ehe für alle. Im Herzen der Schweiz – den Tell’schen Urkantonen – ging es deutlich knapper zu.
Aber nun ist sie da, die Universalehe. Und neue Fragen kommen auf: Wird vom Tessin aus, wo immerhin 53 Prozent für die freie Partnerwahl stimmten, ein Signal nach Italien ausgehen, dem einzigen Nachbarland, in dem Familie noch binär gedacht wird? Und was tut sich nun in Liechtenstein, diesem kleinen Mündel der Berner Fonduefreunde?
Die Ehe für alle bringt aber auch eine neue Ungerechtigkeit hervor. Denn bei der Witwenrente nehmen es die Schweizer wörtlich. Sie steht nur hinterbliebenen Frauen zu, nicht aber Witwern. Dieses Modell war bisher einfach nur klassisch-konservativ, weil es davon ausging, dass Männer in jedem Fall mehr verdienen als Frauen und auch ungesünder leben und deshalb früher als ihre Gattinnen sterben. Daraus wird nun eine himmelschreiende Ungerechtigkeit. Denn in lesbischen Ehen haben beide Gattinnen Anrecht auf diesen Rentenbonus. Schwule Ehepaare gehen bei der Witwenrente hingegen in jedem Fall leer aus.
Schon grübeln die ersten helvetischen Hipster über den nächsten Volksentscheid: Witwenrente für alle. 50.000 Unterschriften werden sie aber keinesfalls zusammenkriegen, denn eine Ausweitung der Witwenrente auf die Männer kostet. Und wenn dem Schweizer eines heiliger als das traditionelle Familienbild ist, dann sein Überschuss im Staatshaushalt.