Ausgelöst durch Forschungsergebnisse von Psychologen, wonach jedes Kind entscheidende Entwicklungsanstöße in seinen ersten Lebensjahren erhält, war die Kindererziehung Anfang der siebziger Jahre ein viel diskutiertes Thema, das auch im SPIEGEL erörtert wurde (z. B. mit der Titelstory im Heft Nr. 44 vom 26.10.1070: »Kindererziehung: Verlorene Jahre?«). Da in meinem Heimatort, dem nahe Mannheim gelegenen Dorf Heddesheim, gerade in dieser Zeit zwei neue konfessionelle Kindergärten gebaut werden sollten, griff ich zusammen mit meiner damaligen Freundin und späteren Frau das Thema in einem Flugblatt auf, das am 22.11.1970 auf der Treppe vor dem Eingang der evangelischen Kirche verteilt wurde. Denn in der Kirche veranstaltete der Männergesangverein ein Wohltätigkeitskonzert zugunsten der geplanten Neubauten. Unter Berufung auf die im SPIEGEL vorgebrachten Argumente wurde von uns gefordert, einen überkonfessionellen, statt zwei konfessionellen Kindergärten zu bauen, zumal gerade in Heddesheim damals noch ein regelrechter »Religionskrieg« zwischen den katholischen und evangelischen Christen herrschte. Wenn Jugendliche ins heiratsfähige Alter kamen, wurde darauf geachtet, dass sie beide derselben Religion angehörten, damit es keine »Mischehen« gibt.
Als der evangelische Pfarrer die Flugblattaktion mitbekam, rief er den CDU-Bürgermeister an, der wutschnaubend herbeieilte und sofort zur Tat schritt: Er beschimpfte uns als »Drecksoze« und »Schweine«, prügelte mit der Faust auf uns ein und gab meiner Freundin einen so heftigen Stoß, dass sie die sieben Kirchentreppen hinunterfiel und sich schwere Schürfwunden zuzog. Die der SPD nahestehende Allgemeine Tageszeitung (AZ) berichtete ausführlich über die »Tempelreinigung mit Kesslers schlagenden Argumenten«, während der konservative Mannheimer Morgen die Überschrift zu seinem Artikel vorsichtig formulierte: »Hat Bürgermeister Kessler Jungsozialisten geschlagen?«
Nach dem brutalen Schlageinsatz suchten wir einen Arzt auf und erstatteten anschließend auf der Polizeistation in der Nachbarstadt Ladenburg Strafanzeige gegen den Rathauschef, der dafür bekannt war, in seiner Gemeinde wie ein Despot aufzutreten. Ein in der Tageszeitung veröffentlichtes Foto zeigt uns mit Verbänden umwickelt vor der Polizeiwache. Obwohl circa hundert Sänger Zeugen der Gewaltaktion waren, wollte keiner etwas gesehen haben, und der Bürgermeister machte zunächst von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch. Später erklärte er bei der Vernehmung, dass er »beim besten Willen nicht mehr sagen könne, wie es zu dem Sturz der Flugblattverteilerin gekommen« sei, mit dem Zusatz: »Sollte ich daran auch nur die geringste Schuld haben, bedauere ich dies zutiefst.« Er sei als »Ortspolizeibehörde« eingeschritten und bei dem Einsatz als »Faschist« beschimpft worden, was ihn in Rage gebracht habe. Bei seiner Vernehmung stellte er »fürsorglich« Strafantrag gegen mich wegen »frechen Lachens, des Ausdrucks ›Faschist‹ u. a.«, womit ich ihn beleidigt hätte.
Die von uns gegen den Bürgermeister eingebrachte Klage wurde vom Ersten Staatsanwalt mit der Begründung zurückgewiesen, dass der Vorfall geringfügig sei und dass »kein öffentliches Interesse an einer strafgerichtlichen Verfolgung« bestehe. Der Generalstaatsanwalt stellte sich hinter diese Entscheidung. So haben der Landrat und die Justiz den prügelnden Bürgermeister vor dem Rücktritt bewahrt, der zwingend erforderlich gewesen wäre. Wir konnten uns lediglich über die Überweisung von DM 124,60 für Schadensersatz und Schmerzensgeld freuen, die der Gerichtsvollzieher bei dem zahlungsunwilligen Bürgermeister eingetrieben hat.
Anlässlich des 1.100jährigen Ortsjubiläums brachte Heddesheim im Jahr 2017 eine umfangreiche Chronik heraus. Der Leiter der Redaktion setzte gegen heftige Widerstände aus der Verwaltung durch, dass der »Streit auf der Kirchtreppe« aufgenommen wurde, weil es ein typischer Vorfall für die Zeit um 1968 gewesen sei.