Als das Gewitter erst noch aufzog, aber die EU bereits Sanktionen androhte, kursierten bereits die Rechnungen, die den politischen Entscheidungsträgern die Eröffnung des Wirtschaftskrieges gegen Russland erleichtern sollten. Hermann Simon beispielsweise, der wahrscheinlich gutverdienende Gründer der Unternehmensberatung »Simon-Kucher & Partner« wunderte sich am 22. Februar in der FAZ, »dass die wirtschaftliche Lage Russlands in der öffentlichen Diskussion um die aktuelle Ukrainekrise fast vollständig außen vor« bleibe. Dessen Wirtschaftskraft werde völlig überschätzt. Sie betrage nur »7,2 Prozent der amerikanischen Wirtschaftsleistung« oder »10,9 Prozent der EU-Wirtschaftsleistung« – mit jeweils abnehmender Tendenz. Auch die »russische Exportstärke« werde überschätzt. Sie läge »bei weniger als ein Drittel der deutschen Exporte«, ihre Struktur sei »extrem einseitig« und entfalle zu »drei Vierteln« auf Öl und Gas. Das sollte heißen: Ein Wirtschaftskrieg gegen einen solchen Zwerg würden die Riesen USA und EU leicht gewinnen.
Gäbe es noch marxistisch gebildete Menschen im deutschen akademischen Betrieb (die sind seit der Ära der Berufsverbote weitgehend verschwunden), hätten sie darauf hingewiesen, dass dieser Analyse eine Verwechslung von Tausch- mit Gebrauchswerten zugrunde läge. Denn diese Rechnung erfasst nur Tauschwerte. Die Bedeutung von Warengruppen für das Leben der Menschen hat aber mit ihrem Tauschwert wenig zu tun. Das wird jedem klar, der gedanklich in einem ersten Schritt die 1,5 Prozent Erwerbstätige, die in der Landwirtschaft Deutschlands tätig sind, für ein Jahr die Arbeit einstellen ließe und in einem zweiten Schritt beliebige 1,5 Prozent der viel größeren Gruppe im politischen Überbau – also Ministerien, Parteien, Parlamenten. Letztere 1,5 Prozent erwirtschaften – tauschwertbezogen – weit mehr als erstere, aber das Fehlen der erstgenannten 1,5 Prozent würde uns allen deutlich schneller auf den Magen schlagen als das Fehlen der letztgenannten 1,5 Prozent.
So ist das jetzt auch mit den Sanktionen und das dämmert zunehmend auch nicht marxistisch gebildeten Ökonomen (Herrn Simon wahrscheinlich zuletzt). Der Londoner Economist beschwor am 19. März angesichts des heraufziehenden Weltwirtschaftskrieges, »liberale Regierungen« müssten »einen neuen Pfad finden«, der »Offenheit und Sicherheit« kombiniere und verhindere, »dass der Traum der Globalisierung sauer wird«. Eine Woche vorher hatte er die Zahlen des »ökonomischen Fallouts« von Krieg und Sanktionen in einer »special section« zusammengefasst, die hier zu referieren den Rahmen sprengen würde. Aber die Kernzahlen lesen sich eben völlig anders als vor den Sanktionsbeschlüssen: Russland ist Nummer eins, zwei und drei beim Export von Gas, Öl und Kohle. Es steht für die Hälfte der Uran-Importe in die USA, ein Zehntel des in der Welt verbauten Aluminiums und Kupfers, es dominiert den Handel mit Palladium, ohne das Verbrennungsmotoren nicht durch Elektromotoren ersetzt werden können. Zusammen mit der Ukraine steht das Land nicht nur für 30 Prozent aller Weizenexporte, sondern beide markieren auch die Spitze beim Handel mit Gerste, Mais, Sonnenblumen und insgesamt 12 Prozent aller Kalorien, die weltweit gehandelt werden. Russland allein ist der größte Exporteur von Pottasche, dem Düngerzusatz, ohne den die industrielle Landwirtschaft nicht denkbar ist.
Das Geschäftsmodell des Wertewestens beruht in seinem Kern darin, aufgrund seiner historisch durch Ökonomie, Politik und Militär erkämpften Dominanz den Tausch- über den Gebrauchswert zu stellen und dies auch weltweit durchsetzen zu können: Rohstoffe mit hohem Gebrauchswert werden zu niedrigem Tauschwert eingekauft, unter Führung der westlichen beherrschten Konzerne bei Hinzufügung hochqualifizierter Arbeitskraft angereichert und der in ihnen enthaltene Mehrwert zum Schluss zu hohem Tauschwert auf den Weltmärkten realisiert.
In Krisen wie der, die sich jetzt entfaltet, zählt aber nicht der Tausch-, sondern der Gebrauchswert einer Ware. Wer glaubt, Russlands Durchhaltevermögen hinge davon ab, dass US-amerikanische Unternehmen Rindfleischscheiben zwischen zwei Brötchenhälften packen dürfen oder dass US-amerikanische Programme auf chinesischen Smartphones laufen, lernt nun, dass in Krisen die Belieferung mit Weizen, Nickel, Pottasche, Öl und Gas – also Dingen, die vor der Krise eher geringe Tauschwerte hatten – das ist, was zählt.
Wo dieser »Grainstorm«, wie der Economist das Unwetter, in dem wir nun stecken, noch hinführt, ist ungewiss. Vor allem die drohende völlige Zerrüttung des weltweiten Nahrungsmittelmarktes wird menschliche, ökonomische und politische Folgewirkungen haben, die vorher niemand von denen auf dem Sprechzettel hatte, auf dem das Ausrufen des großen Wirtschaftskrieges vermerkt war. Die Folgen werden nicht nur die Hungernden in Afrika und Asien, sondern auch Millionen Menschen in der EU, also wir, zu tragen haben – durch massiven Rückgang des Lebensstandards, der weit über ein bisschen Frieren hinausgehen wird.