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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Sanktionsirrtümer

Als das Gewit­ter erst noch auf­zog, aber die EU bereits Sank­tio­nen androh­te, kur­sier­ten bereits die Rech­nun­gen, die den poli­ti­schen Ent­schei­dungs­trä­gern die Eröff­nung des Wirt­schafts­krie­ges gegen Russ­land erleich­tern soll­ten. Her­mann Simon bei­spiels­wei­se, der wahr­schein­lich gut­ver­die­nen­de Grün­der der Unter­neh­mens­be­ra­tung »Simon-Kucher & Part­ner« wun­der­te sich am 22. Febru­ar in der FAZ, »dass die wirt­schaft­li­che Lage Russ­lands in der öffent­li­chen Dis­kus­si­on um die aktu­el­le Ukrai­ne­kri­se fast voll­stän­dig außen vor« blei­be. Des­sen Wirt­schafts­kraft wer­de völ­lig über­schätzt. Sie betra­ge nur »7,2 Pro­zent der ame­ri­ka­ni­schen Wirt­schafts­lei­stung« oder »10,9 Pro­zent der EU-Wirt­schafts­lei­stung« – mit jeweils abneh­men­der Ten­denz. Auch die »rus­si­sche Export­stär­ke« wer­de über­schätzt. Sie läge »bei weni­ger als ein Drit­tel der deut­schen Expor­te«, ihre Struk­tur sei »extrem ein­sei­tig« und ent­fal­le zu »drei Vier­teln« auf Öl und Gas. Das soll­te hei­ßen: Ein Wirt­schafts­krieg gegen einen sol­chen Zwerg wür­den die Rie­sen USA und EU leicht gewinnen.

Gäbe es noch mar­xi­stisch gebil­de­te Men­schen im deut­schen aka­de­mi­schen Betrieb (die sind seit der Ära der Berufs­ver­bo­te weit­ge­hend ver­schwun­den), hät­ten sie dar­auf hin­ge­wie­sen, dass die­ser Ana­ly­se eine Ver­wechs­lung von Tausch- mit Gebrauchs­wer­ten zugrun­de läge. Denn die­se Rech­nung erfasst nur Tausch­wer­te. Die Bedeu­tung von Waren­grup­pen für das Leben der Men­schen hat aber mit ihrem Tausch­wert wenig zu tun. Das wird jedem klar, der gedank­lich in einem ersten Schritt die 1,5 Pro­zent Erwerbs­tä­ti­ge, die in der Land­wirt­schaft Deutsch­lands tätig sind, für ein Jahr die Arbeit ein­stel­len lie­ße und in einem zwei­ten Schritt belie­bi­ge 1,5 Pro­zent der viel grö­ße­ren Grup­pe im poli­ti­schen Über­bau – also Mini­ste­ri­en, Par­tei­en, Par­la­men­ten. Letz­te­re 1,5 Pro­zent erwirt­schaf­ten – tausch­wert­be­zo­gen – weit mehr als erste­re, aber das Feh­len der erst­ge­nann­ten 1,5 Pro­zent wür­de uns allen deut­lich schnel­ler auf den Magen schla­gen als das Feh­len der letzt­ge­nann­ten 1,5 Prozent.

So ist das jetzt auch mit den Sank­tio­nen und das däm­mert zuneh­mend auch nicht mar­xi­stisch gebil­de­ten Öko­no­men (Herrn Simon wahr­schein­lich zuletzt). Der Lon­do­ner Eco­no­mist beschwor am 19. März ange­sichts des her­auf­zie­hen­den Welt­wirt­schafts­krie­ges, »libe­ra­le Regie­run­gen« müss­ten »einen neu­en Pfad fin­den«, der »Offen­heit und Sicher­heit« kom­bi­nie­re und ver­hin­de­re, »dass der Traum der Glo­ba­li­sie­rung sau­er wird«. Eine Woche vor­her hat­te er die Zah­len des »öko­no­mi­schen Fall­outs« von Krieg und Sank­tio­nen in einer »spe­cial sec­tion« zusam­men­ge­fasst, die hier zu refe­rie­ren den Rah­men spren­gen wür­de. Aber die Kern­zah­len lesen sich eben völ­lig anders als vor den Sank­ti­ons­be­schlüs­sen: Russ­land ist Num­mer eins, zwei und drei beim Export von Gas, Öl und Koh­le. Es steht für die Hälf­te der Uran-Impor­te in die USA, ein Zehn­tel des in der Welt ver­bau­ten Alu­mi­ni­ums und Kup­fers, es domi­niert den Han­del mit Pal­la­di­um, ohne das Ver­bren­nungs­mo­to­ren nicht durch Elek­tro­mo­to­ren ersetzt wer­den kön­nen. Zusam­men mit der Ukrai­ne steht das Land nicht nur für 30 Pro­zent aller Wei­zen­ex­por­te, son­dern bei­de mar­kie­ren auch die Spit­ze beim Han­del mit Ger­ste, Mais, Son­nen­blu­men und ins­ge­samt 12 Pro­zent aller Kalo­rien, die welt­weit gehan­delt wer­den. Russ­land allein ist der größ­te Expor­teur von Pott­asche, dem Dün­ger­zu­satz, ohne den die indu­stri­el­le Land­wirt­schaft nicht denk­bar ist.

Das Geschäfts­mo­dell des Wer­te­we­stens beruht in sei­nem Kern dar­in, auf­grund sei­ner histo­risch durch Öko­no­mie, Poli­tik und Mili­tär erkämpf­ten Domi­nanz den Tausch- über den Gebrauchs­wert zu stel­len und dies auch welt­weit durch­set­zen zu kön­nen: Roh­stof­fe mit hohem Gebrauchs­wert wer­den zu nied­ri­gem Tausch­wert ein­ge­kauft, unter Füh­rung der west­li­chen beherrsch­ten Kon­zer­ne bei Hin­zu­fü­gung hoch­qua­li­fi­zier­ter Arbeits­kraft ange­rei­chert und der in ihnen ent­hal­te­ne Mehr­wert zum Schluss zu hohem Tausch­wert auf den Welt­märk­ten realisiert.

In Kri­sen wie der, die sich jetzt ent­fal­tet, zählt aber nicht der Tausch-, son­dern der Gebrauchs­wert einer Ware. Wer glaubt, Russ­lands Durch­hal­te­ver­mö­gen hin­ge davon ab, dass US-ame­ri­ka­ni­sche Unter­neh­men Rind­fleisch­schei­ben zwi­schen zwei Bröt­chen­hälf­ten packen dür­fen oder dass US-ame­ri­ka­ni­sche Pro­gram­me auf chi­ne­si­schen Smart­phones lau­fen, lernt nun, dass in Kri­sen die Belie­fe­rung mit Wei­zen, Nickel, Pott­asche, Öl und Gas – also Din­gen, die vor der Kri­se eher gerin­ge Tausch­wer­te hat­ten – das ist, was zählt.

Wo die­ser »Grain­storm«, wie der Eco­no­mist das Unwet­ter, in dem wir nun stecken, noch hin­führt, ist unge­wiss. Vor allem die dro­hen­de völ­li­ge Zer­rüt­tung des welt­wei­ten Nah­rungs­mit­tel­mark­tes wird mensch­li­che, öko­no­mi­sche und poli­ti­sche Fol­ge­wir­kun­gen haben, die vor­her nie­mand von denen auf dem Sprech­zet­tel hat­te, auf dem das Aus­ru­fen des gro­ßen Wirt­schafts­krie­ges ver­merkt war. Die Fol­gen wer­den nicht nur die Hun­gern­den in Afri­ka und Asi­en, son­dern auch Mil­lio­nen Men­schen in der EU, also wir, zu tra­gen haben – durch mas­si­ven Rück­gang des Lebens­stan­dards, der weit über ein biss­chen Frie­ren hin­aus­ge­hen wird.