Könnte man auch als Sanktionen bezeichnen, was politisch korrekt selbstverständlich »russischer Angriffskrieg« oder »Putins Angriffskrieg« heißen muss? »Niemals«, lautet wohl die spontane Antwort, aber zweifelsfrei begründen lässt sie sich nicht.
Sanktion und Krieg unterscheiden sich deutlich in der Wahl der Mittel, aber kaum in der Zielsetzung: In beiden Fällen geht es darum, die Gegenseite durch Zufügung empfindlichen Schadens zum Akzeptieren bestimmter Forderungen oder zum Unterlassen bestimmter Handlungen zu zwingen. Der Unterschied entspricht ungefähr dem zwischen den Straftatbeständen Körperverletzung und Erpressung; die Gewaltanwendung ist im einen Fall physisch und im anderen mental, aber nicht nur die physische Gewalt kann töten.
Mindestens in einem Fall wissen wir, dass die tödlichen Folgen wirtschaftlicher Sanktionen die Ausmaße eines Massenmordes erreichen können: Das nach dem Golfkrieg 1991 gegen den Irak verhängte Embargo hat nach Feststellungen der UNO eine halbe Million irakische Kinder das Leben gekostet, weil die Materialien nicht geliefert werden durften, die nötig gewesen wären, um das kriegszerstörte Trinkwassersystem zu reparieren. Wir wissen außerdem, dass die seinerzeitige US-Außenministerin Albright den Tod so vieler Kinder nachträglich als akzeptablen Preis für die Beseitigung eines schlimmen Diktators gewertet hat.
Nicht genau bekannt ist dagegen, ob ebenso viele oder mehr Kinder ums Leben gekommen sind durch den Angriffskrieg – inklusive Napalm-Einsatz – der USA gegen das vietnamesische Volk, den Amerika mit der Opferung von 60 000 eigenen Soldaten immerhin heldenhaft verloren hat, wenn auch nicht ehrenhaft, denn der Einsatz giftiger Chemikalien, als »Entlaubungsaktion« beschönigt, war ein schweres Kriegsverbrechen. Die versprühte Dioxin-Menge hätte bei entsprechend feingezielter Verteilung ausgereicht, die gesamte Menschheit umzubringen.
Ob Sanktionen zielführender und weniger todbringend gewesen wären, muss hier ebenso Spekulation bleiben wie im Fall des noch langwierigeren Angriffskriegs gegen Afghanistan, den die USA und ihre Komplizen weniger heldenhaft verloren haben und der wenig mehr erbracht hat als die Auslöschung zahlloser Hochzeitsgäste und die Chance für einen deutschen Oberst, sich durch ein Massaker für die Beförderung zum General zu qualifizieren.
Ein wesentlicher Unterschied zwischen Sanktion und Krieg bleibt natürlich das Ausmaß des Risikos, das der Sanktionierer oder der Angreifer eingeht. Allerdings lässt sich, wie 1999 der Angriffskrieg gegen Jugoslawien gezeigt hat, das Risiko auch schon durch die Beschränkung auf großräumige Intensivbombardierung ohne Einsatz von Bodentruppen erheblich reduzieren. Und gemeinsam ist der Sanktion und dem militärischen Angriff das Vorliegen einer mehr oder weniger langen und mehr oder weniger relevanten Vorgeschichte, die zum aktuellen Handeln motiviert hat. Ebenso gemeinsam ist beiden Reaktionsmöglichkeiten die Neigung, diese Vorgeschichte zu leugnen, umzudeuten oder zu relativieren. In der Diskussion ergibt sich daraus eine jener Grauzonen, deren Unbestimmbarkeit den Vorteil bietet, widerstreitende krasse Schwarz-Weiß-Vereinfachungen zu ermöglichen und zugleich zu kaschieren.
Da in der Eigenwahrnehmung wie in der gegenseitigen Zuschreibung die grenzenlos Guten den absolut Bösen gegenüberstehen, erübrigt sich so die rationale Suche nach einem Kompromiss zwischen konfligierenden Interessen, da es um etwas so nüchtern Kalkulierbares wie Interessen überhaupt nicht geht, sondern um die Verteidigung universell gültiger und darum nicht verhandelbarer »Werte«. Aus einer pragmatischen Frage des politischen Miteinander-Auskommens wird damit eine Frage der jeweiligen Positionierung auf einer Stufenleiter der moralischen Dignität, die der vermeintlich höherwertigen Seite die strafrechtliche Kompetenz der Anklage, der Verurteilung und der Sanktionierung zuweist.
Spätestens hier zeigt sich, dass die Zuordnung der Wirtschaftssanktionen zu den gewaltfreien, friedlichen Konfliktlösungsinstrumenten wie etwa der Diplomatie (wie sie auch der Philosoph Jürgen Habermas vorgenommen hat) auf einem Irrtum beruht. Sanktionen sind kriegerische Gewaltakte, die sich von militärischen Attacken allenfalls quantitativ (Ausmaß des potentiellen Schadens), aber nicht qualitativ unterscheiden. Das Embargo, das die USA vor gut sechs Jahrzehnten gegen Kuba verhängt haben, um den sozialistischen Inselstaat durch Aushungern gefügig zu machen, ist ein mittlerweile sechzig Jahre andauernder Angriffskrieg.
Es wird höchste Zeit, Sanktionen als das zu erkennen und zu behandeln, was sie sind: Kriegführung mit den Waffen der Wirtschaft. Sie dienen nicht dem Frieden, sondern verschärfen die Konflikte und erschweren erheblich die Suche nach einer für alle Beteiligten vertretbaren Lösung. Sie müssen ebenso klar und eindeutig verurteilt werden wie der militärische Angriffskrieg. Ziel müsste eine verbindliche Regelung sein, dass allein die UNO oder ein Friedensrat als Organ der Uno das Recht hat, Sanktionen anzuordnen oder zu genehmigen.