Zwei Prozent der Landschaft sollen, so will es Umweltminister Habeck, für Windkraftanlagen genutzt werden. Das mag vielleicht auf den ersten Blick wenig erscheinen, ist aber in Wirklichkeit erschreckend viel. Die Forderung wird mit einer auffallenden Aggressivität und Rigorosität vorgebracht. Von einem »megaambitionierten« und »gigantischen« Projekt ist die Rede, »restriktive Abstandsregeln« könnten nicht länger bestehen bleiben. Die gleiche Rigorosität wendet die Führungsriege der Grünen – die sich ideologisch an der Atlantik-Brücke orientiert (Vorsitzender: Friedrich Merz) – gegenüber China und Russland an: Wir befinden uns, so heißt es, in einer »systemischen Auseinandersetzung« zwischen den »autokratischen Regimes« und »unseren Demokratien«. China wolle »die Weltordnung prägen«, deshalb müssen wir es eindämmen. Die anderen sind aggressiv – nicht aber wir. Auch Russland bedroht uns alle, daher müssen wir wachsam sein und entschlossen und maximale Strafaktionen ankündigen.
Was dabei herausfällt, ist die Einsicht, dass die Wirklichkeit vielschichtig ist und mindestens zwei Seiten hat. So hat der wünschenswerte Ausbau der Windenergie, wo er nicht mehr ausgewogen stattfindet, sondern unter alleiniger Subsumtion unter eine einzige Idee – die man wahlweise mit Profit oder der Rettung des Klimas umschreiben kann – zum Teil desaströse Auswirkungen auf die Landschaft, auf den Artenschutz, den Tourismus, die Ökologie und auch die Ökonomie einzelner Regionen. Und auch das Verhältnis zwischen uns und Russland ist ein zweiseitiges Verhältnis; es wird nicht nur durch die »Böswilligkeit Russlands« geprägt. Die Interessen Russlands haben etwas mit geschichtlichen Erfahrungen zu tun, z. B. dem 2. Weltkrieg. Es hat aber auch etwas mit der forcierten Politik der amerikanischen Neokonservativen seit mindestens zwei Jahrzehnten zu tun. Diese Politik, die in den entsprechenden Publikationen offen ausgesprochen wird, zielt auf die globale Hegemonie und dabei auf die Niederhaltung jedweder ökonomischen und geopolitischen Konkurrenz – ganz gleich ob Freund oder Feind.
Wenn man an dem manichäischen Weltbild krampfhaft festhalten will, demgemäß die eine Seite eben der Lump oder das Böse ist und die andere Seite – zufällig wir – die Guten, dann braucht man dazu die Mithilfe der Sprache bzw. eine Handhabung derselben, die bei George Orwell Neusprech heißt. So wird nach Habeck der Artenschutz nicht etwa geschwächt, sondern »neu abgewogen«. Die zum Teil drastischen Auswirkungen des ungezügelten Ausbaus der Windkraft auf Natur, ökologische Zusammenhänge und die Landschaft ist eine »Veränderung der kulturellen Identität von ländlichen Räumen«. Und der Ukraine will man zwar vorerst keine Waffen verkaufen, aber man schenkt ihrer chauvinistischen Regierung das Geld zum Kauf von Waffen, womit man dann eine »Friedensrolle« spielt und »die Resilienz« des Landes stärkt.
Zwei Prozent ist eine magische Zahl. Auf gerade diesen Anteil des Bruttosozialprodukts sollen auch die Militärausgaben steigen. Auch dies wird von der Bundesregierung mitgetragen, auf servile Weise hat sie sich die Forderungen und Wünsche der verschiedenen US-Administrationen zu eigen gemacht. Nicht aus geostrategischen Machtinteressen, sondern, wie es seit Anbeginn des Kolonialismus heißt, »aus Verantwortung«. Hat jemand etwas gegen Verantwortung?
Der Gott des Handels ist bekanntlich auch der Gott der List. Der Gott des Krieges aber ist er nicht. Handel schafft Verbindungen zwischen den Völkern. Wo aber eine Pipeline gekappt wird, Rote Linien definiert und Flugzeugträger entsandt werden, da geht es um etwas anderes. Und so wird plötzlich deutlich, dass die Vorstellung Habecks, innerhalb weniger Jahre den Anteil der regenerativen Energien auf brachiale Weise von derzeit 40 auf 80 Prozent zu steigern, noch eine weitere Dimension hat, die mit der Rettung des Klimas gar nichts zu tun hat. Die Pipeline steht einem Krieg entgegen. Dies ist, neben den energiewirtschaftlichen Gründen, ein starkes Argument dafür, sie endlich in Betrieb zu nehmen. Wer dagegen auf Konfrontation setzt, kann nicht zugleich den Handel ausweiten. So erscheinen der Habecksche Krieg gegen die Landschaft und der von Teilen des Establishments gesuchte und gewollte Krieg gegen Russland als zwei Seiten der gleichen Medaille.
Um diese Politik durchzusetzen, bedient sich Macht der Konstruktion eines empirisch nicht gedeckten wir, das auf groteske Weise soziale Klassenunterschiede und andere Interessengegensätze ausblendet. Spontan denkt man an Kaiser Wilhelm, der zu Beginn des 1. Weltkrieges »nur noch Deutsche« sehen wollte, die in einer Art Burgfrieden begeistert in den Krieg ziehen (um das angeblich bedrohte Deutsche Reich zu verteidigen). Ähnlich möchte Robert Habeck seine Offensive für den Klimaschutz als die »große Gemeinschaftsaufgabe« der Gesellschaft betrachten. Politische Unterschiede und Interessengegensätze soll es nicht mehr geben, sondern die Menschen und die Patrioten von heute ordnen sich alle freudig dem einen großen Ziel unter, nämlich dem Ausbau der Windkraft bzw. der erneuerbaren Energien. Walter Benjamin nannte das die »Traumverfangenheit der bürgerlichen Gesellschaft«. Leider führt dieser schlechte Traum nur allzu oft in den Alptraum.
Das Desiderat ist ein ausgewogener Ausbau der Windkraft im Besonderen und der regenerativen Energien im Allgemeinen, der sich nicht eindimensional einem einzigen Leitgesichtspunkt unterordnet; ein Ausbau, in dem auch andere Interessen Berücksichtigung finden und der organisch verwoben ist mit ökologischen, ökonomischen, sozialen und menschlichen Belangen und Bedürfnissen.
Vor allem aber geht es darum, den Energie- und Stromverbrauch drastisch zu senken. Es gibt keine saubere Energiequelle. Falsch ist es, den angenommenen stark steigenden Stromverbrauch gleichsam als Naturgesetz zu behandeln. Die massenhafte Ausweitung des Individualverkehrs mit Elektroautos (einschließlich der dafür erforderlichen Straßen), Weihnachtsbeleuchtung und nächtliche Schaufensterbeleuchtungen, vor allem jedoch eine aufgeblasene und technisierte Konsumwelt, deren menschlicher Sinn oftmals fragwürdig ist – dies alles ist zu hinterfragen. Minister Habeck hat also recht, wir brauchen eine gesellschaftliche Debatte. Zugleich hat er aber nicht recht, indem er seine Debatte so versteht, dass die Politiker den Bürgern erklären, was richtig ist und wo es langgeht. Hier fällt einem der frühere baden-württembergische Ministerpräsident Mappus und das Bauprojekt Stuttgart 21 ein: Die Obrigkeit weiß, was für die Menschen gut ist, und muss dies dann den noch unwissenden Bürgern erklären (und gegenüber den Uneinsichtigen notfalls auch durchsetzen). Solch eine Debatte brauchen wir nicht! Sondern wir brauchen einen gesellschaftlichen Diskurs, der offen ist. Er dreht sich um die Frage: Wie wollen wir leben. Und: Wie und mit wem wollen wir ins Gespräch kommen. Es ist ein zentrales Signum von Zivilität, dass der Gegner zu Wort kommt. Und dass man ihm zuhört. Wer aber Feindsender definiert und dann verbietet, der will Krieg. Und der will, dass man nur noch ihm zuhört.
Unsere Gesellschaft hat es verlernt, im Fremden das Eigene zu erkennen und sich zu fragen, wo wir das Verhalten des Gegners mit hervorbringen. Stattdessen betäubt sie sich mit Floskeln wie »Freiheit« und »Demokratie«, die immer inhaltsleerer werden. Sie sind zu Sprachhülsen geworden, die als Kampfbegriffe der Legitimation von Partialinteressen dienen. Hier wie andernorts werden uns die Sätze, die wir glauben sollen, unaufhörlich vorgetrommelt. Zur Freiheit – und zum Mut, ohne den es keine Freiheit gibt und der etwas anderes ist, als lauthals mitzutrommeln – gehört die Differenz. Oder, wie es vor knapp 250 Jahren formuliert wurde: das Vermögen, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen.