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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Rüstungswahnsinn

Die Erin­ne­run­gen an mein erstes Lebens­jahr­zehnt sind durch den Über­fall auf Polen 1939 domi­niert. Er ging 1941 in Hit­lers Raub­zug nach »Wei­zen der Ukrai­ne und Öl aus Baku« (O-Ton Hit­ler) in den 2. Welt­krieg über. Die Ver­wü­stung der Ukrai­ne, Bel­o­russ­lands, Russ­lands bis zum Kau­ka­sus fei­er­ten wir Gym­na­sia­sten mit gesteck­ten Fähn­chen an der Russ­land­kar­te im Klas­sen­zim­mer als Sie­ge der Wehr­macht – bis wir spä­te­stens 1945 auf­ge­wacht sind. Jetzt befin­de ich mich im zehn­ten Jahr­zehnt mei­nes Lebens, und wie­der – oder noch immer? – tönen im deut­schen Radio die alten Hass­ti­ra­den gegen Russ­land und sei­nen Prä­si­den­ten. Auf dem Fern­seh­bild­schirm kön­nen wir am Kriegs­ge­sche­hen vor Ort »teil­ha­ben« und die Lei­den der Bevöl­ke­rung aus siche­rer Distanz mit­er­le­ben. In was für eine Welt wach­sen mei­ne Enkel und Uren­kel hinein?

Um es unmiss­ver­ständ­lich aus­zu­spre­chen: Ich ver­ur­tei­le aus tie­fer huma­ni­sti­scher Über­zeu­gung jeden Krieg. Mei­ne erste Fra­ge: Wel­chen Nut­zen zieht wel­che Sei­te dar­aus? Die rus­si­sche Mili­tär­ak­ti­on in der Ukrai­ne bringt bei­den Sei­ten Tod und Zer­stö­rung. Sie scha­det Russ­land und sei­nem Prä­si­den­ten Wla­di­mir Putin per­sön­lich, der sei­nem Volk die natio­na­le Wür­de zurück­ge­ge­ben, das Lebens­ni­veau sta­bi­li­siert und Russ­lands Sta­tus als euro­päi­sche Groß­macht wie­der­her­ge­stellt hat. Die Nato-Staa­ten kün­dig­ten ver­schärf­te »Stra­fen« an, sie wol­len »Russ­lands Wirt­schaft und Han­del ein­däm­men« und das Land »inter­na­tio­nal iso­lie­ren« (O-Ton Bun­des­tag 27.02.2022). Woher nimmt sich die Nato das Recht, Poli­ti­ker ande­rer Län­der zu »bestra­fen«?

Das ukrai­ni­sche Volk muss die Kriegs­hand­lun­gen ertra­gen und Tote und Ver­letz­te bekla­gen, weil sein Prä­si­dent Selen­skyj die For­de­run­gen ost­ukrai­ni­scher Regio­nen nach Auto­no­mie in den Lan­des­gren­zen trotz Zusa­ge und Ver­trag (Minsk 2) abge­lehnt hat. Wem nutzt die­se Ver­wei­ge­rung der Auto­no­mie? Der Krieg schafft Feind­schaft zwi­schen zwei Bru­der­völ­kern, deren Groß­vä­ter und Groß­müt­ter vor über 75 Jah­ren gemein­sam die Hit­ler­fa­schi­sten ver­trie­ben haben. Die Väter und Müt­ter der jet­zi­gen Sol­da­ten bei­der Län­der haben ihre Hei­mat wie­der auf­ge­baut. Wer hat einen Nut­zen davon, wenn Ukrai­ner und ande­re Völ­ker der frü­he­ren UdSSR gegen Russ­land auf­ge­sta­chelt werden?

Erster Nutz­nie­ßer die­ser Akti­on des rus­si­schen Mili­tärs sind USA-Prä­si­dent Joe Biden und die Nato-Staa­ten in Euro­pa. Beim Antritts­be­such von Olaf Scholz in Washing­ton sag­te Biden auf der gemein­sa­men Pres­se­kon­fe­renz: »Soll­te Russ­land die Ukrai­ne über­fal­len, wür­de Nord Stream 2 nicht statt­fin­den.« Was hat der USA-Prä­si­dent mit Nord Stream 2 zu tun, einer ver­trag­lich ver­ein­bar­ten Gas­lei­tung zwi­schen der BRD und Russ­land? Nichts! Und doch maßt er sich an, über ihre Inbe­trieb­nah­me zu ent­schei­den – und das in Gegen­wart des deut­schen Regie­rungs­chefs. Die­ses Macht­ge­ha­be ame­ri­ka­ni­scher Prä­si­den­ten beruht auf ihrem seit 1990 unbe­irr­ten Selbst­ver­ständ­nis, die USA wären die »ein­zi­ge Welt­macht« (Brze­zin­ski 1997).

Die Mehr­zahl der Staa­ten der Welt sehen vor allem die von den USA mili­tä­risch über­fal­le­nen und zer­stör­ten Län­der wie Afgha­ni­stan, den Irak, Liby­en, Syri­en, in Afri­ka, Latein­ame­ri­ka, die stän­dig bedroh­ten Staa­ten wie Iran, Kuba, Nord­ko­rea und nicht zuletzt die VR Chi­na. Die mili­tan­te Welt­herr­schafts­po­li­tik der USA hat das Ver­trau­en in die Füh­rungs­fä­hig­keit der USA erschüt­tert. Wel­cher Prä­si­dent der USA ist für die­se Kriegs­ver­bre­chen bestraft oder mit Sank­tio­nen belegt wor­den? In den USA bela­sten Macht­kämp­fe zwi­schen Demo­kra­ten und Repu­bli­ka­ner, enor­me Ver­schul­dung und Ras­sis­mus das Leben. Biden braucht nach innen und außen Erfol­ge. Die Selen­skyj-Regie­rung hat mit der Ver­hin­de­rung der Grenz­re­ge­lung zu Russ­land Biden zu außen­po­li­ti­schem Erfolg ver­hol­fen. Nach innen punk­tet er bei sei­nen Frack­ing­gas-Mono­po­len, die nun ihr Gas nach Euro­pa expor­tie­ren können.

Zwei­ter Nutz­nie­ßer des mili­tä­ri­schen Deba­kels zwi­schen Russ­land und der Ukrai­ne sind die euro­päi­schen Nato-Staa­ten. Zunächst sei dar­an erin­nert, die Grün­dung der Nato 1948 erfolg­te auf der Lüge, Sta­lin wol­le zum Rhein vor­drin­gen. Die west­li­chen Demo­kra­tien müss­ten geschützt wer­den. Ade­nau­er ver­kün­de­te im Bun­des­tag, die »Rus­sen« sei­en an allem schuld. Der kal­te Krieg gegen die Sowjet-
uni­on und ihre Ver­bün­de­ten heiz­te sich auf. Sta­lins Note von 1952 zur Rege­lung der deut­schen Fra­ge wies Ade­nau­er zurück. Es ist nicht neu, Frie­dens­be­reit­schaft von ande­ren zu for­dern, bei Ver­hand­lun­gen Ange­bo­te abzu­leh­nen und durch unan­nehm­ba­re Bedin­gun­gen zu beantworten.

Bun­des­prä­si­dent Stein­mei­er erin­ner­te in sei­ner Antritts­re­de am 13. Febru­ar wie auch Bun­des­kanz­ler Scholz im Bun­des­tag am 27.02.2022 an die KSZE von 1975. Ein sehr gutes Forum, um den Krieg in der Ukrai­ne zu been­den und eine neue euro­päi­schen Frie­dens­ord­nung zu schaf­fen, an der alle Staa­ten Euro­pas mit­wir­ken. Damals haben 35 Staa­ten Euro­pas, die USA und Kana­da neun Jah­re (1966-1975) ver­han­delt, bis die Staats- und Regie­rungs­chefs am 1. August 1975 die »Schluss­ak­te von Hel­sin­ki« unter­zeich­ne­ten. Die erste Leh­re der KSZE: Geduld bei Sicherheitsverhandlungen.

Eine zwei­te Leh­re: Kei­ner der 35 Staa­ten stell­te Vor­be­din­gun­gen. Alle anste­hen­den Pro­ble­me Euro­pas wur­den nach Sicher­heits­fra­gen, Han­dels- und Wirt­schafts­in­ter­es­sen sowie huma­ni­tä­ren und kul­tu­rel­len Auf­ga­ben in die berühm­ten »drei Kör­be« von Hel­sin­ki getan und gemein­sam ver­han­delt. Fried­li­che Koexi­stenz in Praxis.

Eine drit­te Leh­re nen­ne ich poli­ti­sche Beweg­lich­keit bei kom­ple­xen Ver­hand­lungs­ge­gen­stän­den. In der End­pha­se der Ver­hand­lun­gen ver­lang­te die CDU/​CSU in der Bun­des­tags­de­bat­te zur KSZE am 17.10.1974, dass die Regie­rung vor Unter­zeich­nung der Schluss­ak­te Vor­be­din­gun­gen stellt. Bei Annah­me hät­te die KSZE schei­tern kön­nen, doch das wur­de abge­lehnt. Die Gleich­be­rech­ti­gung der Mit­glied­staa­ten funk­tio­nier­te bis 1990.

Seit Auf­lö­sung der UdSSR und des War­schau­er Pak­tes ver­hal­ten sich die USA wie der ober­ste Welt­po­li­zist. USA-Prä­si­dent Oba­ma behan­del­te Russ­land nun als Regio­nal­macht. In die­sem Kon­text wur­de unter Bun­des­kanz­ler Hel­mut Kohl die KSZE zur OSZE umor­ga­ni­siert. Die »Frie­dens- und Sicher­heits­po­li­tik« der KSZE über­nahm fort­an die Nato, die »Wirt­schafts­po­li­tik zum gegen­sei­ti­gen Vor­teil« die EG (EU). Die Gleich­be­rech­ti­gung aller KSZE-Mit­glie­der war aufgehoben.

1998 führ­te die Nato einen Krieg zur Zer­schla­gung Jugo­sla­wi­ens, UN- sowie KSZE/O­SZE-Mit­glied. Auf dem Bal­kan bil­de­ten sich neue Staa­ten. Am 27.02.2008 erklär­te sich der Koso­vo gegen den Wil­len der ser­bi­schen Regie­rung zum selb­stän­di­gen Staat. Die USA, die im Koso­vo einen Mili­tär­stand­ort unter­hiel­ten, haben den neu­en Staat am Tag danach aner­kannt. Wo war da der Respekt vor dem Völ­ker­recht? Biden und sei­ne Nato-Cla­queu­re beru­fen sich jetzt auf das Völ­ker­recht, um Putin »zu bestra­fen«, weil er die Volks­re­pu­bli­ken Donezk und Lug­ansk aner­kannt hat. Ihre Dop­pel­mo­ral und ihr USA-Vasal­len­tum macht die euro­päi­schen Nato-Staa­ten zum Hand­lan­gern ame­ri­ka­ni­scher, statt zum Ver­tei­di­ger eige­ner Inter­es­sen. Deut­sche Poli­ti­ker lie­ßen sich dafür beklatschen.

Die Nato igno­riert die berech­tig­ten Sicher­heits­in­ter­es­sen Russ­lands. Nach Auf­lö­sung der UdSSR tum­meln sich in den selb­stän­dig gewor­de­nen Sowjet­re­pu­bli­ken Ame­ri­ka­ner und West­eu­ro­pä­er mit Hilfs­an­ge­bo­ten aller Art und wer­ben für den Nato-Bei­tritt. Im Bal­ti­kum haben Nato und EU mili­tä­ri­sche Vor­po­sten bezo­gen. Bis an Russ­lands Gren­zen ist ein Nato-geführ­ter Ring von Staa­ten mit ame­ri­ka­hö­ri­gen Regie­run­gen gezo­gen. In die­sem »Ring« feh­len noch die Ukrai­ne und Bela­rus. Wer also, Herr Bun­des­prä­si­dent, legt wem »eine Schlin­ge um den Hals«?

Das Kern­pro­blem für die Zuspit­zung der inter­na­tio­na­len Lage und damit eine gewach­se­ne Kriegs­ge­fahr sind die Ver­än­de­run­gen im inter­na­tio­na­len Kräf­te­ver­hält­nis zwi­schen den Groß­mäch­ten. Die USA spü­ren, dass ihr Ein­fluss und ihre Macht schwin­det. Russ­land ist eine mili­tä­ri­sche, poli­ti­sche und öko­no­mi­sche Groß­macht, noch dazu mit gro­ßen Boden­schät­zen. Putin hat Biden mit sei­ner unver­zeih­li­chen Mili­tär­ak­ti­on in der Ukrai­ne de fac­to eine Steil­vor­la­ge gelie­fert, die euro­päi­schen Nato-Brü­der zu einem groß ange­leg­ten Feld­zug gegen Russ­land von der Lei­ne zu las­sen. Die »erste Sonn­tags­son­der­sit­zung« des Bun­des­ta­ges am 27.02.2022 war eine pein­li­che Frie­dens­heu­che­lei. Vor­ne­weg CDU-Scharf­ma­cher Fried­rich Merz. Die CDU war es, die 1975 die KSZE ver­hin­dern woll­te. Sie woll­te damals kei­ne gleich­be­rech­tig­ten Staa­ten in Euro­pa, und sie will sie auch heu­te nicht. Hoch­rü­stung und ein Gegen­ein­an­der der Völ­ker sind jedoch fal­sche Mit­tel, um Frie­den zu stif­ten. Die gegen­wär­ti­ge Kon­flikt­la­ge in Euro­pa ist kei­ne Neu­auf­la­ge der Ost-West-Kon­fron­ta­ti­on und auch nicht nur Kampf der USA um Absatz­märk­te für ihr Frack­ing­gas. Die­se und wei­te­re äuße­re Erschei­nun­gen des Russ­land-Ukrai­ne-Kon­flik­tes sind eine aku­te Kriegs­ge­fahr für Euro­pa. Die Situa­ti­on erfor­dert unver­züg­lich ein diplo­ma­ti­sches Han­deln aller Sei­ten. Die mili­tä­ri­schen Akti­vi­tä­ten Russ­lands in der Ukrai­ne müs­sen been­det wer­den. Euro­pa braucht eine Poli­tik der Euro­pä­er für Euro­pas Inter­es­sen, eine neue »Kon­fe­renz für Sicher­heit und Zusam­men­ar­beit in Euro­pa« (KSZE).