Die Erinnerungen an mein erstes Lebensjahrzehnt sind durch den Überfall auf Polen 1939 dominiert. Er ging 1941 in Hitlers Raubzug nach »Weizen der Ukraine und Öl aus Baku« (O-Ton Hitler) in den 2. Weltkrieg über. Die Verwüstung der Ukraine, Belorusslands, Russlands bis zum Kaukasus feierten wir Gymnasiasten mit gesteckten Fähnchen an der Russlandkarte im Klassenzimmer als Siege der Wehrmacht – bis wir spätestens 1945 aufgewacht sind. Jetzt befinde ich mich im zehnten Jahrzehnt meines Lebens, und wieder – oder noch immer? – tönen im deutschen Radio die alten Hasstiraden gegen Russland und seinen Präsidenten. Auf dem Fernsehbildschirm können wir am Kriegsgeschehen vor Ort »teilhaben« und die Leiden der Bevölkerung aus sicherer Distanz miterleben. In was für eine Welt wachsen meine Enkel und Urenkel hinein?
Um es unmissverständlich auszusprechen: Ich verurteile aus tiefer humanistischer Überzeugung jeden Krieg. Meine erste Frage: Welchen Nutzen zieht welche Seite daraus? Die russische Militäraktion in der Ukraine bringt beiden Seiten Tod und Zerstörung. Sie schadet Russland und seinem Präsidenten Wladimir Putin persönlich, der seinem Volk die nationale Würde zurückgegeben, das Lebensniveau stabilisiert und Russlands Status als europäische Großmacht wiederhergestellt hat. Die Nato-Staaten kündigten verschärfte »Strafen« an, sie wollen »Russlands Wirtschaft und Handel eindämmen« und das Land »international isolieren« (O-Ton Bundestag 27.02.2022). Woher nimmt sich die Nato das Recht, Politiker anderer Länder zu »bestrafen«?
Das ukrainische Volk muss die Kriegshandlungen ertragen und Tote und Verletzte beklagen, weil sein Präsident Selenskyj die Forderungen ostukrainischer Regionen nach Autonomie in den Landesgrenzen trotz Zusage und Vertrag (Minsk 2) abgelehnt hat. Wem nutzt diese Verweigerung der Autonomie? Der Krieg schafft Feindschaft zwischen zwei Brudervölkern, deren Großväter und Großmütter vor über 75 Jahren gemeinsam die Hitlerfaschisten vertrieben haben. Die Väter und Mütter der jetzigen Soldaten beider Länder haben ihre Heimat wieder aufgebaut. Wer hat einen Nutzen davon, wenn Ukrainer und andere Völker der früheren UdSSR gegen Russland aufgestachelt werden?
Erster Nutznießer dieser Aktion des russischen Militärs sind USA-Präsident Joe Biden und die Nato-Staaten in Europa. Beim Antrittsbesuch von Olaf Scholz in Washington sagte Biden auf der gemeinsamen Pressekonferenz: »Sollte Russland die Ukraine überfallen, würde Nord Stream 2 nicht stattfinden.« Was hat der USA-Präsident mit Nord Stream 2 zu tun, einer vertraglich vereinbarten Gasleitung zwischen der BRD und Russland? Nichts! Und doch maßt er sich an, über ihre Inbetriebnahme zu entscheiden – und das in Gegenwart des deutschen Regierungschefs. Dieses Machtgehabe amerikanischer Präsidenten beruht auf ihrem seit 1990 unbeirrten Selbstverständnis, die USA wären die »einzige Weltmacht« (Brzezinski 1997).
Die Mehrzahl der Staaten der Welt sehen vor allem die von den USA militärisch überfallenen und zerstörten Länder wie Afghanistan, den Irak, Libyen, Syrien, in Afrika, Lateinamerika, die ständig bedrohten Staaten wie Iran, Kuba, Nordkorea und nicht zuletzt die VR China. Die militante Weltherrschaftspolitik der USA hat das Vertrauen in die Führungsfähigkeit der USA erschüttert. Welcher Präsident der USA ist für diese Kriegsverbrechen bestraft oder mit Sanktionen belegt worden? In den USA belasten Machtkämpfe zwischen Demokraten und Republikaner, enorme Verschuldung und Rassismus das Leben. Biden braucht nach innen und außen Erfolge. Die Selenskyj-Regierung hat mit der Verhinderung der Grenzregelung zu Russland Biden zu außenpolitischem Erfolg verholfen. Nach innen punktet er bei seinen Frackinggas-Monopolen, die nun ihr Gas nach Europa exportieren können.
Zweiter Nutznießer des militärischen Debakels zwischen Russland und der Ukraine sind die europäischen Nato-Staaten. Zunächst sei daran erinnert, die Gründung der Nato 1948 erfolgte auf der Lüge, Stalin wolle zum Rhein vordringen. Die westlichen Demokratien müssten geschützt werden. Adenauer verkündete im Bundestag, die »Russen« seien an allem schuld. Der kalte Krieg gegen die Sowjet-
union und ihre Verbündeten heizte sich auf. Stalins Note von 1952 zur Regelung der deutschen Frage wies Adenauer zurück. Es ist nicht neu, Friedensbereitschaft von anderen zu fordern, bei Verhandlungen Angebote abzulehnen und durch unannehmbare Bedingungen zu beantworten.
Bundespräsident Steinmeier erinnerte in seiner Antrittsrede am 13. Februar wie auch Bundeskanzler Scholz im Bundestag am 27.02.2022 an die KSZE von 1975. Ein sehr gutes Forum, um den Krieg in der Ukraine zu beenden und eine neue europäischen Friedensordnung zu schaffen, an der alle Staaten Europas mitwirken. Damals haben 35 Staaten Europas, die USA und Kanada neun Jahre (1966-1975) verhandelt, bis die Staats- und Regierungschefs am 1. August 1975 die »Schlussakte von Helsinki« unterzeichneten. Die erste Lehre der KSZE: Geduld bei Sicherheitsverhandlungen.
Eine zweite Lehre: Keiner der 35 Staaten stellte Vorbedingungen. Alle anstehenden Probleme Europas wurden nach Sicherheitsfragen, Handels- und Wirtschaftsinteressen sowie humanitären und kulturellen Aufgaben in die berühmten »drei Körbe« von Helsinki getan und gemeinsam verhandelt. Friedliche Koexistenz in Praxis.
Eine dritte Lehre nenne ich politische Beweglichkeit bei komplexen Verhandlungsgegenständen. In der Endphase der Verhandlungen verlangte die CDU/CSU in der Bundestagsdebatte zur KSZE am 17.10.1974, dass die Regierung vor Unterzeichnung der Schlussakte Vorbedingungen stellt. Bei Annahme hätte die KSZE scheitern können, doch das wurde abgelehnt. Die Gleichberechtigung der Mitgliedstaaten funktionierte bis 1990.
Seit Auflösung der UdSSR und des Warschauer Paktes verhalten sich die USA wie der oberste Weltpolizist. USA-Präsident Obama behandelte Russland nun als Regionalmacht. In diesem Kontext wurde unter Bundeskanzler Helmut Kohl die KSZE zur OSZE umorganisiert. Die »Friedens- und Sicherheitspolitik« der KSZE übernahm fortan die Nato, die »Wirtschaftspolitik zum gegenseitigen Vorteil« die EG (EU). Die Gleichberechtigung aller KSZE-Mitglieder war aufgehoben.
1998 führte die Nato einen Krieg zur Zerschlagung Jugoslawiens, UN- sowie KSZE/OSZE-Mitglied. Auf dem Balkan bildeten sich neue Staaten. Am 27.02.2008 erklärte sich der Kosovo gegen den Willen der serbischen Regierung zum selbständigen Staat. Die USA, die im Kosovo einen Militärstandort unterhielten, haben den neuen Staat am Tag danach anerkannt. Wo war da der Respekt vor dem Völkerrecht? Biden und seine Nato-Claqueure berufen sich jetzt auf das Völkerrecht, um Putin »zu bestrafen«, weil er die Volksrepubliken Donezk und Lugansk anerkannt hat. Ihre Doppelmoral und ihr USA-Vasallentum macht die europäischen Nato-Staaten zum Handlangern amerikanischer, statt zum Verteidiger eigener Interessen. Deutsche Politiker ließen sich dafür beklatschen.
Die Nato ignoriert die berechtigten Sicherheitsinteressen Russlands. Nach Auflösung der UdSSR tummeln sich in den selbständig gewordenen Sowjetrepubliken Amerikaner und Westeuropäer mit Hilfsangeboten aller Art und werben für den Nato-Beitritt. Im Baltikum haben Nato und EU militärische Vorposten bezogen. Bis an Russlands Grenzen ist ein Nato-geführter Ring von Staaten mit amerikahörigen Regierungen gezogen. In diesem »Ring« fehlen noch die Ukraine und Belarus. Wer also, Herr Bundespräsident, legt wem »eine Schlinge um den Hals«?
Das Kernproblem für die Zuspitzung der internationalen Lage und damit eine gewachsene Kriegsgefahr sind die Veränderungen im internationalen Kräfteverhältnis zwischen den Großmächten. Die USA spüren, dass ihr Einfluss und ihre Macht schwindet. Russland ist eine militärische, politische und ökonomische Großmacht, noch dazu mit großen Bodenschätzen. Putin hat Biden mit seiner unverzeihlichen Militäraktion in der Ukraine de facto eine Steilvorlage geliefert, die europäischen Nato-Brüder zu einem groß angelegten Feldzug gegen Russland von der Leine zu lassen. Die »erste Sonntagssondersitzung« des Bundestages am 27.02.2022 war eine peinliche Friedensheuchelei. Vorneweg CDU-Scharfmacher Friedrich Merz. Die CDU war es, die 1975 die KSZE verhindern wollte. Sie wollte damals keine gleichberechtigten Staaten in Europa, und sie will sie auch heute nicht. Hochrüstung und ein Gegeneinander der Völker sind jedoch falsche Mittel, um Frieden zu stiften. Die gegenwärtige Konfliktlage in Europa ist keine Neuauflage der Ost-West-Konfrontation und auch nicht nur Kampf der USA um Absatzmärkte für ihr Frackinggas. Diese und weitere äußere Erscheinungen des Russland-Ukraine-Konfliktes sind eine akute Kriegsgefahr für Europa. Die Situation erfordert unverzüglich ein diplomatisches Handeln aller Seiten. Die militärischen Aktivitäten Russlands in der Ukraine müssen beendet werden. Europa braucht eine Politik der Europäer für Europas Interessen, eine neue »Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa« (KSZE).