Skip to content

Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

Menu
Menu

Rüstungsirrsinn ohne Ende

Als Bun­des­kanz­ler Olaf Scholz nach dem Ein­marsch Russ­lands in die Ukrai­ne am 24. Febru­ar 2022 den Irr­sinn eines soge­nann­ten »Son­der­ver­mö­gens« für Rüstung im Bun­des­tag ver­kün­de­te, gab es ste­hen­den Applaus der Volks­ver­tre­ter/-innen. Das erin­ner­te in fata­ler­wei­se an den Beginn des Ersten Welt­kriegs 1914. Auch damals beju­bel­ten Par­la­men­ta­rier/-innen im Reichs­tag die umfang­rei­chen Kriegs­kre­di­te. Nur weni­ge, wie Rosa Luxem­burg und Karl Lieb­knecht, waren dage­gen. Am Ende bezahl­ten sie ihr »Dage­gen­sein« mit ihrem Leben. Sie wur­den von einem rech­ten mili­tä­ri­schen Mob und poli­ti­schen Revi­sio­ni­sten in der SPD umge­bracht. Und heu­te spre­chen sich wie­der nur weni­ge Poli­ti­ker/-innen gegen die unaus­rott­ba­re Mär von »Auf­rü­stung schafft Frie­den« aus.

Man kann es nicht glau­ben, aber es ist die bit­te­re Wahr­heit: Ver­fas­sungs­recht­lich abge­si­cher­te und mas­siv gestei­ger­te Rüstungs­aus­ga­ben wur­den in einem sozi­al zer­ris­se­nen Deutsch­land mit einer Armuts­quo­te von rund 16 Pro­zent – jedes 5. Kind wächst hier in Armut auf – am 3. Juni 2022 im Bun­des­tag und am 10. Juni im Bun­des­rat beschlos­sen. Und dass auch vor dem Hin­ter­grund einer wei­ter exi­stie­ren­den chro­ni­schen Arbeits­lo­sig­keit und einem gigan­ti­schen Nied­rig­lohn­sek­tor mit Mil­lio­nen von pre­kär Beschäf­tig­ten sowie einer dar­nie­der­lie­gen­den öffent­li­chen Infra­struk­tur und einer unter­fi­nan­zier­ten Bil­dung und Gesund­heit. Außer­dem steht das Land vor gigan­ti­schen Her­aus­for­de­run­gen zur Bewäl­ti­gung der Kli­ma­kri­se. Hier sind hohe jähr­li­che Inve­sti­tio­nen und sozia­le Absi­che­run­gen notwendig.

Volks­ver­tre­ter/-innen und ihre Par­tei­en, die schon seit über 40 Jah­ren eine unsäg­li­che markt­ra­di­ka­le (neo­li­be­ra­le) Poli­tik gegen die Mehr­heit der Bevöl­ke­rung und gegen die Natur betrei­ben, haben es jetzt auch noch fer­tig­ge­bracht und ein Auf­rü­stungs­pro­gramm von 100 Mrd. Euro mit einer Ver­fas­sungs­än­de­rung ins Grund­ge­setz zu schrei­ben – es reicht! Von den 735 Volks­ver­tre­ter/-innen stimm­ten 568 mit ja, 96 immer­hin mit nein, 20 ent­hiel­ten sich, und 51 stimm­ten erst gar nicht ab. Von den 39 Abge­ord­ne­ten der Links-Par­tei waren bis auf 5, die ihre Stim­me nicht abga­ben, alle 34 Par­la­men­ta­rier/-innen gegen die Ver­fas­sungs­än­de­rung. Nur weni­ge pro­mi­nenn­te Mit­glie­der des Bun­des­ta­ges, wie Frank Bsir­ske, ehe­ma­li­ger ver.di-Vorsitzender und Frak­ti­ons­mit­glied für Bündnis90/​Die Grü­nen, stimm­ten auch gegen ihre Partei.

Das 100 Mil­li­ar­den Euro Auf­rü­stungs­pro­gramm reich­te dem Par­la­ment aber noch nicht. Außer­dem sol­len zukünf­tig (im Trend) jähr­lich 2 Pro­zent des nomi­na­len Brut­to­in­lands­pro­dukts für Mili­tär und Rüstung ver­aus­gabt wer­den. Das wären 2021 gut 71 Mil­li­ar­den Euro gewe­sen. Tat­säch­lich waren es aber 2021 im Ein­zel­etat 14 (»Ver­tei­di­gungs­haus­halt«) »nur« 47,5 Mil­li­ar­den Euro. Das heißt, zukünf­tig wird es in Deutsch­land durch das 2-Pro­zent-Dik­tat zu einer Niveau­an­he­bung bei den Mili­tär­aus­ga­ben um fast 50 Pro­zent kom­men. Rela­ti­viert man die Mili­tär­aus­ga­ben nicht in Bezug auf das BIP, son­dern auf den »nor­ma­len« Bun­des­haus­halt (ohne Son­der­aus­ga­ben für Coro­na und Ukrai­ne-Krieg), so wur­den 2019 von den gesam­ten Bun­des­aus­ga­ben in Höhe von 397,0 Mil­li­ar­den Euro, nur fürs Mili­tär 43,2 Mil­li­ar­den Euro aus­ge­ge­ben. Das waren 10,9 Pro­zent. Hier­in ent­hal­ten sind dann aber nur die Mili­tär­aus­ga­ben des Ein­zel­etats 14 und nicht auch die ver­deck­ten zusätz­li­chen Aus­ga­ben in ande­ren Ein­zel­etats des Bun­des­haus­halts gemäß der Defi­ni­ti­on »Ver­tei­di­gungs­aus­ga­ben nach Nato-Kriterien«.

Und wo bleibt hier die Pres­se, die »vier­te Gewalt« in der Demo­kra­tie? Sie ist fast uni­so­no für Auf­rü­stung. Kri­ti­sche Stim­men gibt es so gut wie nicht. Ich bin der her­aus­ra­gen­den und ehe­ma­li­gen Chef­re­dak­teu­rin der Frank­fur­ter Rund­schau, Bascha Mika, sehr dank­bar, wenn sie fol­gen­des schreibt: »Da tum­meln sich Pressevertreter:innen maul­hel­den­haft in Schüt­zen­grä­ben, über­schla­gen sich bei der For­de­rung nach noch schwe­re­ren Waf­fen, trei­ben die Regie­rung wegen angeb­li­cher Zöger­lich­keit vor sich her und spot­ten über die War­nung des Frie­dens­in­sti­tuts Sipri vor einem Atom­krieg. War­um bie­ten sie sich nicht gleich bei Selen­skyj als Söldner:innen an, um mal rich­tig Krieg zu erleben?«

Ralph Urban, Vor­stands­mit­glied der IPPNW (Inter­na­tio­na­le Ärz­te für die Ver­hü­tung des Atom­krie­ges) sagt zu Recht. »Der Reflex zur Bewaff­nung und Auf­rü­stung als Ant­wort auf den Angriffs­krieg in der Ukrai­ne ist (…) nicht hilf­reich. Wir brau­chen statt­des­sen gera­de jetzt ein neu­es Nach­den­ken über Frie­den und Sicher­heit, das kon­kre­te Hand­lungs­schrit­te zur Begren­zung der Kli­ma­ka­ta­stro­phe und eine gerech­te Res­sour­cen­ver­tei­lung ein­schließt. Eine neue, nach­hal­ti­ge Frie­dens­ord­nung in Euro­pa kann nur durch Dees­ka­la­ti­on, Ver­hand­lun­gen und Abrü­stung erreicht wer­den! Eine Welt, in der jeder Staat auf­rü­stet und wei­te­re Staa­ten nach Atom­waf­fen stre­ben, ist kei­ne siche­re­re Welt.« Nach einem Bericht des schwe­di­schen Frie­dens­for­schungs­in­sti­tuts Sipri stocken die neun Atom­mäch­te ihre Anzahl an ato­ma­ren Spreng­köp­fen in den kom­men­den Jah­ren wei­ter auf. Zusam­men kom­men die Län­der auf 12.705 Spreng­köp­fe, wovon Russ­land über 5.977 und die USA über 5.428 Spreng­köp­fe ver­fü­gen. Dan Smith, Direk­tor des Sipri-Insti­tuts, bemerkt dazu: »Die der­zeit 12.705 Atom­waf­fen sind viel weni­ger als die 70.000 Mit­te der 80er Jah­re. Aber die 12.705 kön­nen alles Leben auf unse­rem Pla­ne­ten wei­ter kom­plett aus­lö­schen. Das soll­te schon ein Grund zur Sor­ge sein. Die ein­zi­ge Mög­lich­keit, Poli­ti­ker/-innen zum Han­deln zu bewe­gen besteht dar­in, dass die Men­schen die­se Sor­ge auf die Tages­ord­nung bringen.«

Her­bert Weh­ner (SPD) hat CDU/​CSU Abge­ord­ne­ten im Bun­des­tag ein­mal hin­ter­her­ge­ru­fen, als die­se das Par­la­ment auf eine Äuße­rung von ihm ver­lie­ßen: »Wer raus geht muss auch wie­der rein­kom­men.« Wie, bit­te schön, will man hier aber noch wie­der »rein­kom­men«, wenn US-Prä­si­dent Joe Biden vor der Welt­öf­fent­lich­keit Wla­di­mir Putin einen »Ver­bre­cher« nennt. Wo ist da noch ein »Lan­de­platz«, ein Exit, für bei­de Sei­ten? Mit Putin gäbe es kei­nen Neu­an­fang mehr, sagen dann ganz »Schlaue«. Dann müs­sen wir also war­ten bis Putin gestor­ben ist, um mit sei­nem Nach­fol­ger und Russ­land was zu ver­han­deln und den Krieg zu been­den? Oskar Lafon­taine hat recht, wenn er sagt, auch nach Putin wird es Russ­land geben. Die Welt kann hier aber nicht war­ten. Wir brau­chen sofort eine Lösung, und die kann nur lau­ten, der Krieg muss umge­hend durch einen Waf­fen­still­stand unter­bro­chen wer­den, und er ist dann am Ver­hand­lungs­tisch zwi­schen Russ­land und der Ukrai­ne zu been­den. Dazu müs­sen bei­de Sei­ten eine Lösung fin­den, mit der man leben kann und kei­ner sein Gesicht ver­liert. Das kann nur bedeu­ten, bei­de Sei­ten wer­den was geben und erhal­ten müs­sen. Das Zau­ber­wort heißt Kom­pro­miss. Als Ver­mitt­ler soll­te UN-Gene­ral­se­kre­tär Anto­nio Guter­res mit am Ver­hand­lungs­tisch sit­zen, viel­leicht auch der Papst und der rus­si­sche Patri­arch Kyrill. Wei­te­re Waf­fen­lie­fe­run­gen dage­gen, wie von der Ukrai­ne vehe­ment gefor­dert, wider­spre­chen dage­gen einer not­wen­di­gen Frie­dens­in­itia­ti­ve und sind hoch­gra­dig kon­tra­pro­duk­tiv. Der ehe­ma­li­ge US-ame­ri­ka­ni­sche Außen­mi­ni­ster Hen­ry Kis­sin­ger hat einen, aber mehr ein­sei­ti­gen Vor­schlag gemacht. Die Ukrai­ne müs­se Ter­ri­to­ri­um an Russ­land abtre­ten, damit ein Frie­dens­schluss mög­lich wer­de. Über­haupt warn­te er vor einer demü­ti­gen­den Nie­der­la­ge Russ­lands, die Euro­pas Sta­bi­li­tät auf lan­ge Zeit gefähr­den wür­de. Ähn­lich äußer­te sich auch Macron. Ohne für die Gebiets­ab­tre­tun­gen an Russ­land aber Sicher­heits­ga­ran­tien von Russ­land bezüg­lich eines wei­te­ren krie­ge­ri­schen Über­falls zu erhal­ten, wird sich die Ukrai­ne dar­auf natür­lich nicht ein­las­sen kön­nen. Es wird des­halb ganz schwie­rig wer­den, damit es nicht zu einem welt­wei­ten Gau kommt. Wenn man gläu­big ist, kann man wohl nur noch beten oder mit Albert Ein­stein kon­sta­tie­ren: »Ich bin [mir] nicht sicher, mit wel­chen Waf­fen der drit­te Welt­krieg aus­ge­tra­gen wird, aber im vier­ten Welt­krieg wer­den sie mit Stöcken und Stei­nen kämpfen.«