Als Bundeskanzler Olaf Scholz nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine am 24. Februar 2022 den Irrsinn eines sogenannten »Sondervermögens« für Rüstung im Bundestag verkündete, gab es stehenden Applaus der Volksvertreter/-innen. Das erinnerte in fatalerweise an den Beginn des Ersten Weltkriegs 1914. Auch damals bejubelten Parlamentarier/-innen im Reichstag die umfangreichen Kriegskredite. Nur wenige, wie Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, waren dagegen. Am Ende bezahlten sie ihr »Dagegensein« mit ihrem Leben. Sie wurden von einem rechten militärischen Mob und politischen Revisionisten in der SPD umgebracht. Und heute sprechen sich wieder nur wenige Politiker/-innen gegen die unausrottbare Mär von »Aufrüstung schafft Frieden« aus.
Man kann es nicht glauben, aber es ist die bittere Wahrheit: Verfassungsrechtlich abgesicherte und massiv gesteigerte Rüstungsausgaben wurden in einem sozial zerrissenen Deutschland mit einer Armutsquote von rund 16 Prozent – jedes 5. Kind wächst hier in Armut auf – am 3. Juni 2022 im Bundestag und am 10. Juni im Bundesrat beschlossen. Und dass auch vor dem Hintergrund einer weiter existierenden chronischen Arbeitslosigkeit und einem gigantischen Niedriglohnsektor mit Millionen von prekär Beschäftigten sowie einer darniederliegenden öffentlichen Infrastruktur und einer unterfinanzierten Bildung und Gesundheit. Außerdem steht das Land vor gigantischen Herausforderungen zur Bewältigung der Klimakrise. Hier sind hohe jährliche Investitionen und soziale Absicherungen notwendig.
Volksvertreter/-innen und ihre Parteien, die schon seit über 40 Jahren eine unsägliche marktradikale (neoliberale) Politik gegen die Mehrheit der Bevölkerung und gegen die Natur betreiben, haben es jetzt auch noch fertiggebracht und ein Aufrüstungsprogramm von 100 Mrd. Euro mit einer Verfassungsänderung ins Grundgesetz zu schreiben – es reicht! Von den 735 Volksvertreter/-innen stimmten 568 mit ja, 96 immerhin mit nein, 20 enthielten sich, und 51 stimmten erst gar nicht ab. Von den 39 Abgeordneten der Links-Partei waren bis auf 5, die ihre Stimme nicht abgaben, alle 34 Parlamentarier/-innen gegen die Verfassungsänderung. Nur wenige prominennte Mitglieder des Bundestages, wie Frank Bsirske, ehemaliger ver.di-Vorsitzender und Fraktionsmitglied für Bündnis90/Die Grünen, stimmten auch gegen ihre Partei.
Das 100 Milliarden Euro Aufrüstungsprogramm reichte dem Parlament aber noch nicht. Außerdem sollen zukünftig (im Trend) jährlich 2 Prozent des nominalen Bruttoinlandsprodukts für Militär und Rüstung verausgabt werden. Das wären 2021 gut 71 Milliarden Euro gewesen. Tatsächlich waren es aber 2021 im Einzeletat 14 (»Verteidigungshaushalt«) »nur« 47,5 Milliarden Euro. Das heißt, zukünftig wird es in Deutschland durch das 2-Prozent-Diktat zu einer Niveauanhebung bei den Militärausgaben um fast 50 Prozent kommen. Relativiert man die Militärausgaben nicht in Bezug auf das BIP, sondern auf den »normalen« Bundeshaushalt (ohne Sonderausgaben für Corona und Ukraine-Krieg), so wurden 2019 von den gesamten Bundesausgaben in Höhe von 397,0 Milliarden Euro, nur fürs Militär 43,2 Milliarden Euro ausgegeben. Das waren 10,9 Prozent. Hierin enthalten sind dann aber nur die Militärausgaben des Einzeletats 14 und nicht auch die verdeckten zusätzlichen Ausgaben in anderen Einzeletats des Bundeshaushalts gemäß der Definition »Verteidigungsausgaben nach Nato-Kriterien«.
Und wo bleibt hier die Presse, die »vierte Gewalt« in der Demokratie? Sie ist fast unisono für Aufrüstung. Kritische Stimmen gibt es so gut wie nicht. Ich bin der herausragenden und ehemaligen Chefredakteurin der Frankfurter Rundschau, Bascha Mika, sehr dankbar, wenn sie folgendes schreibt: »Da tummeln sich Pressevertreter:innen maulheldenhaft in Schützengräben, überschlagen sich bei der Forderung nach noch schwereren Waffen, treiben die Regierung wegen angeblicher Zögerlichkeit vor sich her und spotten über die Warnung des Friedensinstituts Sipri vor einem Atomkrieg. Warum bieten sie sich nicht gleich bei Selenskyj als Söldner:innen an, um mal richtig Krieg zu erleben?«
Ralph Urban, Vorstandsmitglied der IPPNW (Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges) sagt zu Recht. »Der Reflex zur Bewaffnung und Aufrüstung als Antwort auf den Angriffskrieg in der Ukraine ist (…) nicht hilfreich. Wir brauchen stattdessen gerade jetzt ein neues Nachdenken über Frieden und Sicherheit, das konkrete Handlungsschritte zur Begrenzung der Klimakatastrophe und eine gerechte Ressourcenverteilung einschließt. Eine neue, nachhaltige Friedensordnung in Europa kann nur durch Deeskalation, Verhandlungen und Abrüstung erreicht werden! Eine Welt, in der jeder Staat aufrüstet und weitere Staaten nach Atomwaffen streben, ist keine sicherere Welt.« Nach einem Bericht des schwedischen Friedensforschungsinstituts Sipri stocken die neun Atommächte ihre Anzahl an atomaren Sprengköpfen in den kommenden Jahren weiter auf. Zusammen kommen die Länder auf 12.705 Sprengköpfe, wovon Russland über 5.977 und die USA über 5.428 Sprengköpfe verfügen. Dan Smith, Direktor des Sipri-Instituts, bemerkt dazu: »Die derzeit 12.705 Atomwaffen sind viel weniger als die 70.000 Mitte der 80er Jahre. Aber die 12.705 können alles Leben auf unserem Planeten weiter komplett auslöschen. Das sollte schon ein Grund zur Sorge sein. Die einzige Möglichkeit, Politiker/-innen zum Handeln zu bewegen besteht darin, dass die Menschen diese Sorge auf die Tagesordnung bringen.«
Herbert Wehner (SPD) hat CDU/CSU Abgeordneten im Bundestag einmal hinterhergerufen, als diese das Parlament auf eine Äußerung von ihm verließen: »Wer raus geht muss auch wieder reinkommen.« Wie, bitte schön, will man hier aber noch wieder »reinkommen«, wenn US-Präsident Joe Biden vor der Weltöffentlichkeit Wladimir Putin einen »Verbrecher« nennt. Wo ist da noch ein »Landeplatz«, ein Exit, für beide Seiten? Mit Putin gäbe es keinen Neuanfang mehr, sagen dann ganz »Schlaue«. Dann müssen wir also warten bis Putin gestorben ist, um mit seinem Nachfolger und Russland was zu verhandeln und den Krieg zu beenden? Oskar Lafontaine hat recht, wenn er sagt, auch nach Putin wird es Russland geben. Die Welt kann hier aber nicht warten. Wir brauchen sofort eine Lösung, und die kann nur lauten, der Krieg muss umgehend durch einen Waffenstillstand unterbrochen werden, und er ist dann am Verhandlungstisch zwischen Russland und der Ukraine zu beenden. Dazu müssen beide Seiten eine Lösung finden, mit der man leben kann und keiner sein Gesicht verliert. Das kann nur bedeuten, beide Seiten werden was geben und erhalten müssen. Das Zauberwort heißt Kompromiss. Als Vermittler sollte UN-Generalsekretär Antonio Guterres mit am Verhandlungstisch sitzen, vielleicht auch der Papst und der russische Patriarch Kyrill. Weitere Waffenlieferungen dagegen, wie von der Ukraine vehement gefordert, widersprechen dagegen einer notwendigen Friedensinitiative und sind hochgradig kontraproduktiv. Der ehemalige US-amerikanische Außenminister Henry Kissinger hat einen, aber mehr einseitigen Vorschlag gemacht. Die Ukraine müsse Territorium an Russland abtreten, damit ein Friedensschluss möglich werde. Überhaupt warnte er vor einer demütigenden Niederlage Russlands, die Europas Stabilität auf lange Zeit gefährden würde. Ähnlich äußerte sich auch Macron. Ohne für die Gebietsabtretungen an Russland aber Sicherheitsgarantien von Russland bezüglich eines weiteren kriegerischen Überfalls zu erhalten, wird sich die Ukraine darauf natürlich nicht einlassen können. Es wird deshalb ganz schwierig werden, damit es nicht zu einem weltweiten Gau kommt. Wenn man gläubig ist, kann man wohl nur noch beten oder mit Albert Einstein konstatieren: »Ich bin [mir] nicht sicher, mit welchen Waffen der dritte Weltkrieg ausgetragen wird, aber im vierten Weltkrieg werden sie mit Stöcken und Steinen kämpfen.«