Am Beginn eines neuen Jahrzehnts Rückschau zu halten, um das Heute am Gestern zu messen, erleichtert den Ausblick auf morgen. An der Schwelle der 1980er Jahre schrieb ich in der Monatszeitschrift Neue Rundschau, was kaum jemand für möglich gehalten hätte, sei eingetreten, 35 Jahre nach Deutschlands Niederlage im Zweiten Weltkrieg erwarte die Welt von der Bundesrepublik entscheidende Beiträge zur Lösung nicht nur der Nord-Süd- und der Ost-West-Probleme, sondern auch zur Steuerung von Handel und Wandel auf dem Weltmarkt. »Wenn uns das nur nicht zu Kopf steigt«, fügte ich an.
Wie mir scheint, ist unser Land mit den Versuchungen der Macht ganz gut fertiggeworden, zumal da Überlegenheit, wie Henry Kissinger sich 1967 auf die Rüstung bezogen ausdrückte, sinnlos ist, »wenn die Verluste auf beiden Seiten die Zehn-Millionen-Grenze überschreiten«. Leider haben das nicht alle begriffen. Noch immer antworten Waffenhersteller, wie Kurt Tucholsky einst sarkastisch bemerkte, auf den Vorwurf einer Mitschuld an der Vorbereitung eines möglichen Völkermordes, sie machten schließlich nur Bürostunden. Als mein Artikel erschien, hatten die Grünen bei der vorausgegangenen ersten Direktwahl zum Europäischen Parlament einen Stimmenanteil von 3,2 Prozent erreicht. Kein sonderlich hinreißendes Ergebnis, aber ihr Ausbrechen aus dem politischen Routinebetrieb signalisierte eine Gegenbewegung zum blinden Fortschrittsglauben. Inzwischen konkurrieren die Grünen mit der CDU um Platz eins in der Wählergunst und empfehlen sich mit der Forderung nach mehr Geld für die Rüstung als Partner in einer künftigen Bundesregierung.
Mit einem Führungswechsel in Peking begann seinerzeit die Etablierung der Volksrepublik als Weltmacht. Heute ist das kommunistisch regierte Land größter Geldgeber der USA und dabei, die Vereinigten Staaten wirtschaftlich und militärisch zu überholen. Da empfiehlt es sich, einen Moment innezuhalten. Wie soll es angesichts dieses Tempos weitergehen mit der Welt, nachdem sie den Alptraum Trump hinter sich gelassen hat und darauf hoffen kann, dass künftig in Washington Politik nicht mehr mit der Brechstange, sondern mit dem Kopf gemacht wird? Für Deutschland und Europa kann das »willige Marschieren im Schlepptau der Vereinigten Staaten«, vor dem schon Franz Josef Strauß wortgewaltig gewarnt hat, jedenfalls nicht der Weisheit letzter Schluss sein. Wenn es zum Beispiel um die Ordnung des Verhältnisses zu China und Russland geht oder um die Erhöhung der Rüstungsausgaben auf zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts, werden sich die Verantwortlichen schon etwas anderes einfallen lassen müssen.
Mit der Berufung des Ex-Generals Lloyd Austin zum Verteidigungsminister der USA hat Trumps Nachfolger Joe Biden zu verstehen gegeben, wohin die Reise mit dem neuen Präsidenten gehen dürfte. Austin saß zuletzt im Aufsichtsrat des US-Rüstungskonzerns Raytheon, der von der Armee Aufträge in Milliardenhöhe erhält. Medienberichten zufolge liefert das Unternehmen unter anderem Bomben für die Einsätze der saudischen Armee im Bürgerkrieg in Jemen. Bei der Nachricht von der Benennung Austins zum Chef des Pentagons haben in den Chefetagen von Raytheon sicher die Sektkorken geknallt.
Die eindringliche Warnung Dwight D. Eisenhowers vor den Folgen der Verflechtung von Politik und Rüstung ist offensichtlich verpufft. Am Ende seiner Amtszeit als US-Präsident erklärte Eisenhower eingedenk eigener Erfahrungen als militärischer Führer: »In den Gremien der Regierung müssen wir der Ausweitung des unbefugten Einflusses des militärisch-industriellen Komplexes vorbeugen. Wir dürfen niemals zulassen, dass diese einflussreiche Allianz unsere Freiheiten und den demokratischen Prozess gefährdet.« Seinen Nachfolgern gab er den Rat: »Abrüstung in gegenseitigem Respekt und Vertrauen ist ein immer noch gültiges Gebot. Zusammen müssen wir lernen, wie wir Meinungsverschiedenheiten beilegen, nicht mit Waffen, sondern mit Verstand und in ehrlicher Absicht.«
In Zeiten wie diesen, da ein Virus die Menschheit lehrt, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden, ist es frivol, nach mehr Geld für die Rüstung zu rufen. Einundzwanzig Prozent der amerikanischen Kinder wachsen nach Angaben des US-Wissenschaftlers Joseph E. Stiglitz in Armut auf. Ist es das, was Chinesen und Russen von der freien Welt lernen sollen?
Die Weichen müssen neu gestellt werden. Die ständige Einmischung in die Angelegenheiten anderer Länder muss aufhören. Misstrauen und ständiges Beschwören angeblicher Bedrohungen von außen vergiften unser Klima nicht weniger als Kohlendioxid. Gute Nachbarschaft kann nicht gedeihen, wenn man sich ständig gegenseitig in die Töpfe guckt.
Jeder Staat hat das Recht, seine politische, gesellschaftliche, wirtschaftliche und kulturelle Ordnung frei zu wählen und zu entwickeln. Es gibt kein allgemein gültiges politisches System und kein allgemein gültiges Wahlmodell, das für alle Nationen und ihre Völker gleichermaßen geeignet wäre. So steht es in Artikel 2 der Charta der Vereinten Nationen beziehungsweise in der UNO-Resolution 48/124. Eine bessere Grundlage für das künftige transatlantische Verhältnis und die Gestaltung der internationalen Beziehungen kann es nicht geben.