Rosa Luxemburg, vor 150 Jahren, am 5. März 1871 geboren, ist als Politikerin immer wieder gescheitert. Die sozialistische Bewegung in Polen ging mehrheitlich den Weg des Nationalismus. Die SPD diente sich im Krieg dem Kaiserreich an. Die KPD wurde nach ihrem Tode stalinisiert. Sie hat auch keine wissenschaftliche Revolution vollzogen wie Karl Marx, sie hat keinen Staat gegründet wie Wladimir Iljitsch Lenin oder Mao Zedong.
Misst man Luxemburg an dem, was ihr Werk unmittelbar bewirkt hat, verfehlt man jedoch ihre Bedeutung. Das Genie Luxemburgs, das sie weit über andere erhebt, drückte sich in ihrem Leben aus. Es war zugleich hochpolitisch und hochpersönlich, mit existenzieller Konsequenz praktisch eingreifend und theoretisch reflektierend, den Massen zugewandt als begnadete Journalistin und Rednerin und sich ganz auf sich selbst, die Malerei, Musik, Pflanzen und Tiere zurückziehend.
Im November 1918, gerade aus dem Gefängnis entlassen, trat sie in einem Artikel für die sofortige Abschaffung der Todesstrafe ein. Dabei hat sie einen doppelten Anspruch an Sozialismus formuliert, der bis heute nachhallt: Über den Sozialismus schreibend, schrieb sie zugleich über sich. Ihr Sozialismus ist uneingeschränkt radikal und radikal menschlich: »Blut ist in den vier Jahren des imperialistischen Völkermordes in Strömen, in Bächen geflossen. Jetzt muss jeder Tropfen des kostbaren Saftes mit Ehrfurcht in kristallenen Schalen gehütet werden. Rücksichtsloseste revolutionäre Tatkraft und weitherzigste Menschlichkeit – dies allein ist der wahre Odem des Sozialismus.«
Wer Luxemburgs Weise verstehen will, den Widerspruch zwischen revolutionärer Tatkraft und weitherzigster Menschlichkeit in Bewegung zu setzen, der muss ihre Schrift »Die russische Revolution« lesen. Darin formulierte sie jene Sätze, mit denen 70 Jahre später, im Januar 1988, Dissidenten aus der DDR gegen Zensur und Bevormundung demonstrierten und dafür inhaftiert wurden: »Freiheit nur für die Anhänger der Regierung, nur für die Mitglieder einer Partei – und mögen sie noch so zahlreich sein – ist keine Freiheit. Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden.«
Luxemburgs Schrift »Zur russischen Revolution« wird zumeist missverstanden. Es werden einzelne Sätze herausgegriffen, die in ihrer Isolation voneinander völlig gegenteilige Positionen auszudrücken scheinen. Am besten ist, man hört sich diese Schrift an wie eine klassische Symphonie, die aus vier Sätzen besteht.
Der Text beginnt und endet mit einer Würdigung der Russischen Revolution und der Bolschewiki. Es sind vor allem die Abschnitte I und II sowie der Schlussteil – man kann dies als den langen ersten und kurzen vierten Satz ihrer »Symphonie« ansehen. Der einleitende Abschnitt gibt wie ein Paukenschlag das Motiv vor: »Die Russische Revolution ist das gewaltigste Faktum des Weltkrieges.« Immer und immer wieder wird es wiederholt. Die Bolschewiki seien es gewesen, die begriffen hätten, dass in Russland selbst wie in Europa der Sozialismus auf der Tagesordnung stehe. Sie hätten bewiesen, dass gilt: »Nicht durch Mehrheit zur revolutionären Taktik, sondern durch revolutionäre Taktik zur Mehrheit geht der Weg« (S. 341).
Im zweiten Satz ihrer Symphonie schlug Luxemburg gewaltsame Maßnahmen vor, die den Gegensatz zwischen den Bauern und den unterdrückten Völkern Russlands mit der bolschewistischen Regierung verschärft hätten. Sie wandte sich dagegen, den Bauern das Land zur privaten Nutzung und den unterdrückten Völkern im Russischen Reich das Recht auf staatliche Abtrennung zu geben. Richtiger sei es, direkt sozialistische Maßnahmen zu ergreifen. Die Kleineigentümer und die sich bei Abtrennung von Russland bildenden Nationalstaaten würden sich als die geborenen Gegner der Sowjetmacht erweisen. Man züchte sich damit die eigenen Feinde heran. Im dritten Satz lehnte sie dann aber genau jene Mittel auf das Entschiedenste ab, mit denen die Bolschewiki versuchten, sich um jeden Preis an der Macht zu halten – die Unterdrückung der politischen Freiheiten und den Regierungsterror. Luxemburg wollte begründen, warum beides gleichzeitig möglich ist – direkt zum Sozialismus zu marschieren und umfassende Demokratie zu sichern. Sozialistische Demokratie und demokratischer Sozialismus sollten Hand in Hand gehen.
Rosa Luxemburg vermochte für sich die genannten Gegensätze zu vereinen. Die Kontrapunkte stimmen bei ihr am Ende zusammen und erzeugen eine Harmonie. Diese Harmonie war ihr aber nur möglich, weil sie davon ausging, dass die Arbeiter und die Massen unter den Bedingungen von Gemeineigentum und im Rahmen eines gemeinsamen Staates jene sozialen Instinkte und Initiativen sowie den Idealismus entwickeln würden, der zum Sozialismus führt. Dies hat sich so nicht bestätigt.
Luxemburg selbst ist vor allem jemand, der die eigene Wahrheit laut ausgesprochen hat – gleichgültig, welche Gefahr für sie damit verbunden war. Diese Haltung des Wahr-Sprechens trug in der griechischen Antike den Namen Parrhesia. Das Wahr-Sprechen hatte bei Luxemburg verschiedene Dimensionen. Erstens ergab sich daraus die Forderung, politische Räume zu schaffen und zu erhalten, in denen die Freiheit des Anders-Denkenden als höchstes Gut geschützt wird. Als Sprechender sollte auch der Feind unangetastet bleiben. Nur in dem Raum des Frei-Sprechens könnten sich Selbstermächtigung und Selbstbestimmung entfalten. Ohne den Dialog gibt es keine Emanzipation.
Zweitens ist Luxemburgs Wahr-Sprechen nicht mit unverbindlichem Gerede zu verwechseln. Das Wahr-Sprechen ist nur dann ernst zu nehmen, wenn der Sprechende alle Gefahren, die damit verbunden sind, auf sich nimmt. Die Sprecherin der Wahrheit ist Garant der Wahrheit dessen, was sie sagt. Luxemburgs Vermächtnis liegt vor allem darin, dass sie sich den Widersprüchen des Lebens als Sozialistin mit äußerster Konsequenz stellte. Die Wahrheit ihres Sprechens lag in der Wahrheit ihres Lebens.
Drittens nimmt das Wahr-Sprechen den dadurch Angesprochenen in die Pflicht. Auch die Anderen sollen nicht lau bleiben. Dies galt für sie politisch wie menschlich. Mit einer Sprache wie mit Keulen wollte sie auf die Menschen einschlagen, schrieb sie im Ersten Weltkrieg, um sie aufzurütteln. Sie wollte durch das Wahr-Sprechen andere zum wahren Leben auffordern, ja, sie dazu zwingen, mit sprachlicher Gewalt.
Viertens war das Wahr-Sprechen bei Rosa Luxemburg Erzeugung einer wahren Realität – wahrer Beziehungen, wahrer Lebensformen, wahrer Politik, und sei es als Vor-Schein einer besseren Zeit und Gesellschaft. Sie war eine durch und durch moderne Prophetin. Sie hat nicht nur laut gesagt, was ist, sondern auch, was sein könnte, wenn man in der Wahrheit lebt und nach der Wahrheit handelt.
Fünftens erfolgte Luxemburgs Wahr-Sprechen aus dem Marxismus heraus. Ihr Marxismus war lebendig. Sie hat die Widersprüche des Marxismus gelebt und setzte sie selbst in Bewegung, um die Selbstemanzipation der arbeitenden Klassen zu befördern. Das wirft natürlich auch die Frage auf, ob im Rahmen des Marxismus’ – oder welches Marxismus’ – die von Luxemburg gelebten Widersprüche produktiv ausgehalten werden können.
Ein Tag vor der Ermordung Rosa Luxemburgs erschien ihr letzter Artikel. Der Januaraufstand in Berlin 1919 war durch das Bündnis von Sozialdemokratie und Freikorps niedergeschlagen worden. Der Artikel trug den düsteren Titel »Die Ordnung herrscht in Berlin«. Er endet mit den letzten Sätzen, die uns von Rosa Luxemburg, der Wahr-Sprecherin, überliefert sind.
»›Ordnung herrscht in Berlin!‹ Ihr stumpfen Schergen! Eure ›Ordnung‹ ist auf Sand gebaut. Die Revolution wird sich morgen schon ›rasselnd wieder in die Höh‘ richten‹ und zu eurem Schrecken mit Posaunenklang verkünden: Ich war, ich bin, ich werde sein!« (S. 538)
Dr. habil. Michael Brie, Sozialphilosoph, Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Im Februar 2021 erschien sein gemeinsam mit Jörn Schütrumpf verfasstes Buch »Rosa Luxemburg. Eine Marxistin an den Grenzen des Marxismus«. Hamburg: VSA Verlag (freier Download: https://www.rosalux.de/fieadmin/rls_uploads/pdfs/themen/Rosa_Luxemburg/Rosa_Luxemburg_An_den_Grenzen_des_Marxismus.pdf).