Die Absolvierung eines Leistungskurses Physik und eines Philosophiegrundkurses empfiehlt sich vor der Lektüre dieses Romans. Wer nicht wenigstens einen davon nachweisen kann, der rücke seine Lexika zu seinem Lektüreplatz oder öffne ein Online-Nachschlagewerk. Doch im Ernst: Es ist gewaltig, was die Autorin hier serviert. Denn man liest eine Art belletristischer Variante ihres parallel erschienenen Werkes »Vom Energieinhalt ruhender Körper. Ein thermodynamisches Konzept von Materie und Zeit«. Geschildert werden in einer Art Countdown die halbe Nacht und der Tag vor der auf 15 Uhr angesetzten Probevorlesung des Dr. Richard Tammo Weiß zum Thema »Die Evolution der Raumzeit – historische und zeitgenössische Sichtweisen«. Eine erfolgreiche Lehrveranstaltung würde dem Vortragenden den Weg zur ersehnten Festanstellung an der Universität ebnen, er könnte nämlich LbA werden, Lehrkraft für besondere Aufgaben. Aber den Aspiranten quälen Skrupel und Zweifel. Denn er hält die »Raumzeit« für baren Unsinn, er schwört auf eine »absolute Zeit« ohne Dilatationen, Krümmungen und was sonst noch aus Einsteins Relativitätstheorien ableitbar ist.
Faszinierend wird von Grit Kalies dargestellt, wie im modernen Wissenschaftsbetrieb Theorien in den Rang von Glaubenssätzen aufsteigen können, die mit religiöser Inbrunst fast zelebriert werden, während die Zweifler auch nicht viel besser als einst die Ketzer behandelt werden. Freilich droht ihnen kein Autodafé, aber keine feste Stellung zu haben, wenn man 36 Jahre alt, verheiratet und die Ehefrau schwanger ist, gerät doch in die Nähe einer Verurteilung. Darum gedeiht Richards Kampf mit der Raumzeit zum Kampf mit sich selbst. Was soll er tun, wenn doch Einstein nicht unrecht haben darf, wenn die Lehrkommission samt Institutsdirektor dessen Theorien für sakrosankt hält, wenn Richards Ablehnung gewiss wäre, gäbe er Einstein ausschließlich recht mit dessen Zweifeln am Bestand von Begriffen. Da müsste er gar nicht erst das Wort »Thermodynamik« fallen lassen – und würde weiterhin »Naturphil.« bleiben, als welcher er im Arbeitsamt auftrat und mithin unvermittelbar wurde.
Der Roman ist theorielastig, gewiss, das ist angesichts der verhandelten Gegenstände auch gar nicht anders möglich. Aber er bietet auch viele amüsante Szenen: einen Workout (Frühsport) mit Van-Morrison-Musik in Endlosschleife, ehelichen Beischlaf und anderes mehr, immer vor dem Hintergrund der Verneinung einer »Raumzeit«, die für Richard bestenfalls »als Dach über dem Kopf« taugt. Er sagt sich: »Immerhin waren Raum und Zeit mit der Relativitätstheorie anschaulicher geworden. Es gab jetzt Begrenzungen, Biegungen und Krümmungen.« Uns »Höhlenmenschen« seien endlose Weiten eben nicht zumutbar.
Zu den vergnüglichen Szenen gehört auch die Schilderung einer tumultuarischen Gerichtsverhandlung, in der Spezielle und Allgemeine Relativitätstheorie als Angeklagte aus der Untersuchungshaft vorgeführt werden. Freilich wirkt diese Szene fast ein wenig willkürlich eingefügt, wie auch die Lust der Autorin am Bildungsgutzitat mitunter die Handlungsschilderung eher holpern lässt, als sie voranzubringen.
Begründet wird das Tribunal damit, dass es für Richard »zum Schwure« komme. Aber kommt es dazu? Noch vor Beginn seiner Vorlesung träumt der unausgeschlafene Richard, kurz einschlummernd, davon, seinen Vortrag so zu halten, wie es seinen Erkenntnissen und Überzeugungen entspricht. Wie er ihn dann hält, das wird ziemlich kurz abgehandelt, denn Einstein hat recht, das kann auch Richard Tammo Weiß nicht leugnen und nicht leugnen wollen.
Der Roman ist ein Lesevergnügen der besonderen und seltenen Art. Warum? Weil hier eine Autorin den Schneid hat, ein ganz großes Thema von Physik und Philosophie fast kammerspielartig im Roman zu behandeln, ohne sich der bei solchen Sujets heutzutage oft exekutierten Form des Thrillers oder des Krimis zu bedienen.
Grit Kalies: Raumzeit, Mitteldeutscher Verlag, 224 S., 14 €.