Nach nunmehr über 30 Jahren Einheit hat man sich auf beiden Seiten eingerichtet. Wohl niemand will ein durch eine Mauer zerschnittenes Land zurück. Die meisten der einst Getrennten sind mehr oder weniger zufrieden. Das Weniger betrifft die Hoffnung, man könne zu einer solidarischen Gemeinschaft zusammenwachsen. Stattdessen liegt Gereiztheit und Nervosität in der Luft. Der Ton bleibt rau, die sozialen Klüfte vertiefen sich. Das Erbe eines Einheitsprozederes, das mehr einer kolonialen Einverleibung glich, hinterlässt immer noch Spuren. »Kein Anschluss unter dieser Nummer« gehörte zu den Losungen mit bürgerrechtlichem Witz – aber die Nummer ist auf denkbar humorlose Art immer noch in Betrieb. Der Osten ist eine schlechte Kopie des Westens geworden und dieser eine schlechte Kopie seiner selbst. Das neoliberale Konsum-Versprechen für den reichen Teil der Welt hat die Natur aus den Angeln gehoben. Ein Teil der künftig am meisten Betroffenen, die Jugendlichen, sind immerhin hellwach.
Die mehrheitlich ältere deutsche Wählerschaft dreht sich dagegen im Kreis und beherrscht allein die Kunst, ein Ergebnis zu fabrizieren, mit dem aber auch niemand zufrieden sein kann. Ein perfekter Spiegel der allgemeinen Ratlosigkeit. Der Regierungsauftrag geht nicht an ein klares Programm, nicht an eine Partei, sondern an nivellierende Koalitionen, die bis auf Nuancen den eingeschlagenen Weg fortsetzen werden. Die LINKE hat sich auf diesem Weg auch ein paar Herbergen eingerichtet, streitend, was die Sache nicht besser macht. Sie überlässt das Herzstück der Demokratie, die Opposition, zu oft den falschen Antworten der Rechten und wird dafür folgerichtig abgestraft. Die Zeit wäre reif, die zerstörerische Funktionslogik des Kapitals zu beleuchten, also die Systemfrage zu stellen, also die Eigentumsfrage. Aber da müsste man den beherbergenden Konsensweg selbstbewusst verlassen.
Wenn der Leidensdruck groß genug ist, so hat in der Hauptstadt nun eine außerparlamentarische Opposition bewiesen, kann man mit radikalen, also an die Wurzeln gehenden Forderungen, aus dem Stand Mehrheiten gewinnen. Die Abgeordneten von Berlin hatten die im Volksbegehren erhobene Forderung nach Vergesellschaftung der Wohnungsbestände großer Unternehmen mehrheitlich abgelehnt. Die Berliner Verfassung bietet für diesen Fall die Möglichkeit eines Volksentscheides, den die Trägerin der »Initiative Deutsche Wohnen & Co enteignen« nun am Wahltag fast nebenbei mit 57 Prozent Zustimmung gewonnen hat. (Allein der inhaltlich und grammatikalisch unmögliche Name »Deutsche Wohnen« wäre schon ein Grund zur Vergesellschaftung. Ist da gemeint »Deutsche wohnen« und andere nicht?)
Der Grundstock dieses in Deutschland größten Wohnungskonzerns (mit seiner mangelnden Sensibilität nicht nur in der Sprache), wurde ausgerechnet vom damaligen rot-roten Senat privatisiert. Angeblich zu Schleuderpreisen, weil die Stadt durch die verfehlten Treuhand-Methoden so verschuldet war. Der Konzern vermietet heute in Berlin mehr als 150 000 Wohnungen. Eigentümer sind im Wesentlichen Investmentbanken und Vermögensverwaltungen mit Sitz in den USA. Der Wert der Aktie hat sich in den letzten Jahren verdoppelt, weil sich auch die angebotenen Mieten verdoppelt haben. Größter Einzelaktionär ist der berüchtigte Black Rocks. Über die Dividenden der Mieten freuen sich die Wall Street und Banken weltweit. Muss das alles sein?
Zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik ist nun von einer Option des Grundgesetztes Art. 15 Gebrauch gemacht worden, nämlich der des Gemeineigentums. Das ist bei all dem Stillstand wirklich revolutionär. Denn dabei handelt es sich nicht nur um ein »verstaubtes Recht«, wie jetzt kommentiert wurde, sondern um ein in der Praxis inexistentes Recht. Zu Gemeineigentum, zu Allmende, gibt es in Deutschland keine Rechtsmaterie. Dafür haben die Westalliierten und in ihrem Windschatten die Adenauer-Regierung gesorgt. Und auch die SPD hat sich 1959 mit ihrem Godesberger Programm ihrer einst nicht nur von August Bebel vertretenden Haltung in dieser Frage entledigt. Nur die LINKE befürwortete uneingeschränkt das Anliegen des Volkentscheids.
In der DDR war Volkseigentum, das Synonym für Gemeineigentum, Grundlage der Verfassung, gehörte zur Normalität. Auch wenn es in den 40 Jahren nicht gelang, wohl auch nicht gelingen sollte, ein demokratisches Verfügungsmodell zu entwickeln, war der Alltag mit seinen flacheren Hierarchien in der Arbeit und seiner sozial größeren Gleichheit doch stark von dieser Art Eigentum geprägt. Es war durchaus mehr als Staatseigentum, nicht nur weil im Grundbuch stand: Eigentum des Volkes. Und erst dann der Rechtsträger, also etwa Kommunale Wohnungsverwaltung oder Rat der Gemeinde. Vor allem aber hatten die staatlichen Stellen nicht die Befugnisse, die jeder bürgerliche Eigentümer hat: sein Eigentum zu verkaufen, zu beleihen oder zu verpfänden. Das heißt, kein Aktionär hatte Ansprüche, Betriebe hatten keine feindlichen Übernahmen, Mieter keine Eigentümerwechsel samt Mieterhöhungen zu befürchten. Das bot eine gewisse Rechtssicherheit. Diese Lebensgewissheit gehörte zur Kernsubstanz der DDR. Deshalb war es nicht verwunderlich, dass in den Wendemonaten und noch nach den Märzwahlen von 1990, als das Wie der Einheit zur Disposition stand, immer noch 68 Prozent der Befragten das Volkeigentum erhalten und nur daneben andere Formen zulassen wollten (»Meinungsforscher analysieren den Umbruch«, Ch.Links Verlag 1990, S.86). Ein gewisses Volks-Eigentümerbewusstsein war wider Erwarten nicht abzusprechen.
Sind in der Bundesrepublik Länder oder Gemeinden Eigentümer einer Wohnungsgesellschaft, so handeln sie dabei als Juristische Personen mit Hilfe des Privatrechts. Bestenfalls widmen sie Teile ihres privaten Eigentums, wie Straßen oder Spielplätze, öffentlichen Zwecken, wodurch es angeblich zu öffentlichem Eigentum wird (Hans-Jürgen Papier: »eine Mogelpackung, eine Leerformel«). Die Öffentlichkeit steht nicht im Grundbuch, sie hat nichts zu sagen, denn die kommunalen Politiker können die Widmung jederzeit ungefragt zurücknehmen. Gemeineigentum dagegen ist das Gegenteil von privatem oder sogenanntem öffentlichem Eigentum.
Es hat mehr als 30 Jahre gedauert, bis die Chancen von Gemeineigentum wieder ins Bewusstsein breiterer Schichten geraten sind. Nun hat eine Bürgermehrheit per Volksentscheid den Berliner Senat beauftragt, ein Gesetz zu erarbeiten, nicht das Abgeordnetenhaus als Legislative. Was nicht ganz einzusehen ist. Profitorientierte Unternehmen mit einem Bestand von mehr als 3000 Wohnungen seien zu vergesellschaften. Das heißt, diese Wohnungen wären dann, so steht es im Beschluss, eben nicht Eigentum der Stadt Berlin, sondern aller Berlinerinnen und Berliner. Diese müssten im Grundbuch stehen. Völliges juristisches Neuland, revolutionär. Die Entschädigungssumme soll unter dem Verkehrswert liegen (wieviel drunter ist zugelassen? Neuland!). Ausgezahlt werden soll sie 40 Jahre lang durch die auf gesenktem Niveau stabilen Mieten. Keine zusätzlichen Kosten also. Eine Reprivatisierung wäre verboten (Neuland für die Westdeutschen!). Einige der Konzerne wie Akelius, die zum Kreis der von einer Vergesellschaftung Betroffenen gehören würden, befürchten offenbar das Schlimmste und haben Teile ihrer Bestände fix in die Verstaatlichung gerettet.
Der Senat ist nicht verpflichtet, den Auftrag anzunehmen. SPD und FDP haben zwar zugesagt, den Volksentscheid rechtlich prüfen zu lassen, aber es gehört nicht viel Fantasie dazu, sich den Befund auszumalen. Wieviel Ignoranz gegenüber dem Willen der Bürger kann sich die Postdemokratie leisten? Wie immer das Ganze ausgeht, die Initiatoren des Volksentscheides haben die Diskussion um das Tabu Gemeineigentum in Gang gebracht. Dieses subversive Gedankengut wird hoffentlich nicht mehr verschüttet werden können. »So, wie es ist, bleibt es nicht. Und aus Niemals wird«: Morgen schon!