Am letzten Oktoberwochenende trug man Wolfgang Kohlhaase auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in der Hauptstadt zu Grabe. Dem schwarzen Sarg folgten sehr, sehr viele Prominente von Bühne, Film und Showbiz – mehrheitlich aus dem Osten. Allerdings vermisste man die bei solchen Ereignissen übliche Präsenz der Presse, insbesondere des Fernsehens. Nicht einmal die RBB-Abendschau aus Charlottenburg war zugegen, die doch sonst über jeden umgefallenen Pflanzenkübel oder Playboy in der Hauptstadt ausführlich berichtet. Auch Vertreter aus der Politik fehlten (sieht man einmal von Walter Momper ab, der schon lange a. D. ist, und vom Landrat aus Märkisch-Oderland). So gesehen, fand der Abschied von einem der bedeutendsten deutschen Drehbuchautoren und Erzähler fast unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Eigentlich ein Skandal. Vielleicht aber auch nicht. Wenn’s denn Zufall war, hatte er vermutlich dennoch Methode.
Wir wissen, dass Redaktionen und Journalisten sich untereinander nicht verabreden, da ist der Konkurrenzkampf vor. Dennoch verhalten sie sich wie kommunizierende Röhren, selbst wenn dies in Abrede gestellt wird. So hat das Maß an Ignoranz den gleichen Pegel, die Unterschiede sind marginal bei Distanzierung oder Aufmerksamkeit für ein Thema, eine Person oder Gruppierung. Dadurch entsteht bei Außenstehenden, uns Rezipienten, der Eindruck einer gewissen Gleichschaltung. Der ist falsch. Niemand schreibt vor, worüber sie berichten sollen (oder es besser lassen), es gibt keine Vorgaben, ob oder auf welche Weise sie ihre Zuwendung oder Verachtung sichtbar machen. Und dennoch gibt es eine erstaunliche Uniformität der Meinungen. Die nennt man Mainstream. Und in diesem schwimmen nahezu alle. Obwohl es doch niemand verlangt.
Ein Seitenarm dieses Hauptstroms, um im Bilde zu bleiben, ist der Osten. Die dort Lebenden werden gelegentlich und harmlos als genetisch Deformierte dargestellt (siehe Jessy Wellmers »Russland, Putin und wir Ostdeutschen«, RBB), oft desavouiert oder gar denunziert. Oder der Lächerlichkeit preisgegeben. Vorherrschend ist jedoch die Ignoranz. Wenn ein Münchner Spezl in seine Restaurantkasse greift und Steuern hinterzieht, füllt das Sendezeit ohne Ende auf allen Kanälen, und der Blätterwald rauscht wie im Herbststurm. Doch nach dem pflichtschuldigen Vermelden seines Todes ist der Name des Ostdeutschen Kohlhaase sofort vergessen, vermutlich weil die Ignoranten ihn und seine Filme ohnehin nicht kannten, wie Andreas Dresen in seiner Trauerrede im Zusammenhang mit einer Auszeichnungsveranstaltung in München erwähnte.
Die Missachtung von Ostdeutschen ist oft gepaart mit Respektlosigkeit. Man macht sie lächerlich und insinuiert, sie seien nicht ganz dicht, an ihrem Zaun fehlten einige Latten. Nehmen wir das Beispiel Egon Krenz, dem es maßgeblich zu danken ist, dass die »friedliche Revolution« friedlich blieb und kein Schuss fiel. Die Berliner Zeitung schrieb zwar am 13./14. Juli 2019: »Heute langweilt es, Egon Krenz routiniert als Witzfigur abzutun.« Aber Langeweile und Routine werden dennoch weiter im westdeutschen Feuilleton gepflegt – so etwa in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung jüngst am 1. November, dem Auftaktmonat zur Karnevalszeit. Stefan Locke befand in einer Besprechung des ersten Bandes der Erinnerungen des letzten SED-Generalsekretärs und einstigen Staatsoberhauptes der DDR: »Statt in der Abteilung Zeitgeschichte wäre dieses Buch deshalb besser in der Rubrik Märchen aufgehoben.« Nun ist es durchaus statthaft, den 85-jährigen Autor und seine Memoiren auch kritisch zu sehen. Doch zwischen alberner Diffamierung und sachlicher Kritik liegt kein schmaler, sondern ein ziemlich breiter Grat. Und wenn man sich für die eine Seite entscheidet, erfolgt dies in vollem Bewusstsein und mit Absicht.
Sie gründet auf einer keineswegs singulären Überzeugung. Insofern ist es eben nicht Zufall, wenn Ostdeutsche mit Häme überzogen und der Lächerlichkeit preisgegeben werden. Davor schützt sie nicht einmal die Herkunft. Ellen Brombacher – anderes Beispiel – kommt aus einer Familie, die allein vierzig Angehörige im Holocaust verlor. Darüber berichtete sie in einem unlängst erschienenen Buch (»Deutsch-jüdisches Familienbild. Meine Kindheitsmuster und Prägungen«). Der Spiegel schlenderte in Gestalt von Timo Lehmann mit ihr über den Alexanderplatz und schickte sie in Nr. 44/2022 ins Panoptikum: »Ihre Sicht auf den Alexanderplatz steht stellvertretend für ihre Sicht auf die DDR und deren Ende: Früher war es besser. Auch das meint sie ernst.« Sodann amüsiert und ekelt der »Journalist« sich gleichermaßen, dass sie sich für ihre Begegnung ein Fastfood-Restaurant »ausgesucht« habe, »ausgerechnet«. Die wohl in der Wahl der Restauration unbedarfte Brombacher hatte diesen Laden einzig deshalb vorgeschlagen, weil er leer war und darum die notwendige Ruhe für ein ernsthaftes Gespräch zu bieten schien. Was zu führen aber nicht die Absicht des Reporters war. »Die Kommunistin setzt sich, lässt ihre schwarze Lederjacke an, bestellt einen Kakao (›Aber bitte ohne Sahne!‹), schiebt ihr Haar zur Seite.« So viele Signale und Chiffren in wenigen Zeilen, das ist die große Kunst der Enthüllung. Am Ende triumphiert erwartungsgemäß der investigative Drachentöter Lehmann: »Brombacher, das muss man sich klarmachen, ist eine Verfassungsfeindin.«
Eine Jüdin eine Verfassungsfeindin, soso. Ist das schon Antisemitismus?
Brombacher ist auch Kommunistin. Naja dann.
Sie ist in Wahrheit das Gegenteil einer Verfassungsfeindin. Brombacher steht nämlich erklärtermaßen in der Tradition des einstigen KPD-Vorsitzenden und Bundestagsfraktionsvorsitzenden Max Reimann, der bei der Annahme des Grundgesetzes erklärt hatte: »Wir unterschreiben nicht. Es wird jedoch der Tag kommen, da wir Kommunisten dieses Grundgesetz gegen die verteidigen werden, die es angenommen haben!«
Lehmann wird Reimann vermutlich nicht kennen (und so komplex gewiss auch nicht denken), wohl aber wissen, dass deutsche Richter sehr fein zwischen Tatsachenbehauptung und subjektiver Wertung zu unterscheiden vermögen. Deshalb kann man als Journalist leicht öffentlich und unwidersprochen denunzieren, zumal das Beschreiten des Rechtswegs teuer ist und vor Klage schützt.
In westdeutschen Redaktionsstuben scheint ein Denkmuster vorzuherrschen, wie ein Zeuge irritiert bemerkte. Man rieb sich erfreut die Hände, als bei den letzten Wahlen die Zustimmung für die AfD im Osten sank – aber nicht, weil die Ostdeutschen überlegter (oder gar nicht) wählten, sondern weil man nun weniger aus und über den Osten berichten müsse, wie man sich untereinander versicherte. Weil die AfD dort – angeblich – also im Schwinden ist, gibt es nichts, worüber man dort berichten müsse oder könne.
Wahrhaftigkeit, der Umgang mit der Wahrheit, ist wahrlich ein schwindendes Gut.
Ein drittes Beispiel für den respektlosen, wohl aber exemplarischen Umgang mit Ostdeutschen liegt zwar zehn Jahre zurück, wurde durch eine Personalie jedoch jüngst wieder erinnert.
Der NDR strahlte 2012 einen neunzigminütigen Dokumentarfilm über Margot Honecker aus und rühmte sich bundesweit eines journalistischen Coups – die FAZ etwa brachte damals eine ganze Seite –, der, was man verschwieg, einzig deshalb gelungen war, dass sich ein Filmemacher unter falscher Flagge in das Haus der bis dato schweigsamen »Diktatoren-Witwe« in Santiago de Chile eingeschlichen hatte. Es lag allerdings dem Sender nachweislich keine schriftliche Zustimmungserklärung vor, die jede und jeder bei Film- und Fernsehaufnahmen unterzeichnen muss, wenn sie oder er das Gesicht in die Kamera hält. Wenn diese Zustimmung fehlt, darf man nicht senden. Die Hamburger Sendeanstalt reagierte auf entsprechende Vorhaltungen mit einer Presseerklärung: »Dem NDR liegt eine uneingeschränkte, von Margot Honecker unterzeichnete Einverständniserklärung zur Veröffentlichung der Interviews vor.«
Das war, wie Margot Honecker wiederholt bekundete, eine Lüge. Sie hatte diesbezüglich »weder eine schriftliche noch eine mündliche Erklärung« abgegeben. Und wenn sie »um eine solche gebeten worden wäre«, hätte sie diese »mit aller Entschiedenheit verweigert« (Mail vom 11. April 2012 an mich).
Die NDR-Lüge hatte die Leiterin des Programmbereichs Kultur und Dokumentation/Fernsehen abgegeben. Sie wurde später Intendantin des RBB. Ihr Name, Sie ahnen es bereits: Patricia Schlesinger.
Sie musste unlängst ihren Hut nehmen – allerdings aus anderen Gründen, die sich aber wohl aus der gleichen Quelle speisten: Anmaßung, Selbstüberhebung, Realitätsverlust und Vorurteile. Aus dieser Quelle trinkt jedoch nicht nur sie.
So erklärt sich am Ende auch der arrogante, würdelose Umgang mit Kohlhaase, Krenz, Brombacher, Honecker und anderen Landsleuten, die den größten Teil ihres Lebens im Osten zubrachten und sich dafür nicht schämten.