»Wir müssen noch ein paar Monate die Pobacken zusammenkneifen.« Mit diesen Worten kündigte Lothar Wieler, Direktor des Robert-Koch-Instituts in Berlin, Anfang November an, dass der gegenwärtige »Lockdown light«, der zunächst bis zum Ende des Monats dauern sollte, so leicht und kurz wohl nicht werden wird. Die Zahl der täglich bestätigten Covid-19-Neuinfektionen ist immer noch alarmierend hoch, und viele Gesundheitsämter können die Infektionsketten schon lange nicht mehr nachverfolgen. Im Fernsehen wird vor einem »Volllaufen« der Intensivstationen mit schwer erkrankten Covid-19-Patienten gewarnt. Währenddessen demonstrieren immer wieder sogenannte Querdenker, gemischt mit Nazis aller Art, gegen die Maßnahmen, mit deren Hilfe die Regierung die Pandemie unter Kontrolle bringen will.
Ganz anders die Situation in mehreren Ländern Asiens, allen voran China. Seit Monaten gibt es dort kaum noch neue Covid-19-Fälle. Kommt es hie und da doch noch zu einem lokalen Ausbruch, wird die Infektionsquelle – meist aus dem Ausland einreisende Personen – in Rekordtempo ausfindig gemacht und die Ausbreitung unterbunden.
Wie haben es die Chinesen geschafft, die Pandemie so schnell erfolgreich in den Griff zu bekommen? Aus unseren Medien erfahren wir das nicht. Meist heißt es nur, die chinesischen Methoden seien in freiheitlich-demokratischen Ländern nicht anwendbar.
Bei meiner Suche nach Informationen stoße ich im Internet auf zwei Artikel in The Lancet. Die wöchentlich in London erscheinende englischsprachige Zeitschrift ist eine der weltweit bekanntesten und renommiertesten medizinischen Fachpublikationen. Das nicht namentlich gezeichnete Editorial der Ausgabe vom 25. Juli ist überschrieben »Covid-19 and China: lessons and the way forward« (Covid-19 und China: Was wir lernen und wie wir vorankommen können). Und in der Ausgabe vom 8. Oktober beschäftigt sich Lancet-Autor Talha Burki mit »China’s successful control of Covid-19« (Chinas erfolgreiche Kontrolle von Covid-19). Einen weiteren interessanten Artikel finde ich in der deutschen Ausgabe des Online-Dienstes Business Insider vom 2. November. Überschrift: »Ohne Lockdown – Warum Asien die Corona-Pandemie unter Kontrolle hat«.
Alle drei Artikel richten den Fokus nicht so sehr auf Details des Vorgehens der chinesischen Regierung, sondern analysieren dessen wichtigste Grundzüge.
China war vorbereitet
Als erster Faktor wird die Vorbereitung Chinas (und anderer asiatischer Länder) auf mögliche weitere Pandemien nach der SARS-Pandemie von 2002/2003 genannt. China habe in den letzten Jahren, so The Lancet, riesige Summen in die Forschung und in den Ausbau des öffentlichen Gesundheitswesens investiert. Die Laborkapazitäten seien vergrößert, mehr Personal ausgebildet und eingestellt, Produktionsstätten für Masken und Schutzmaterialien errichtet worden. Infolgedessen sei das Land auf Covid-19 viel besser vorbereitet gewesen als damals auf den SARS-Ausbruch. »Als im Dezember 2019 die ersten Covid-19-Fälle auftraten, waren die chinesischen Wissenschaftler sehr schnell in der Lage, das Virus zu identifizieren. Sie teilten die Genomsequenz am 11. Januar 2020 international. Bis Ende Januar gelang Ärzten aus Festlandchina und Hongkong die Charakterisierung der klinischen Merkmale von Covid-19 und die Klärung der Übertragungswege von Mensch zu Mensch sowie der Genom-Charakteristika und des epidemiologischen Verhaltens des Virus. Die Daten konnten in The Lancet veröffentlicht und die Welt auf diesem Wege über die Gefahr durch Covid-19 informiert werden.« (eigene Übersetzung dieser und aller weiteren Passagen aus The Lancet; R. H.) Schon lange vor dem ersten Auftreten von Covid-19 waren, laut Business Insider, viele chinesische Flughäfen mit Fiebermessstellen ausgerüstet, und fertig ausgearbeitete Pandemiepläne lagen bereit. Die dadurch ermöglichte »Schnelligkeit, mit der China reagierte«, sei nach Einschätzung von Gregory Poland von der Mayo Clinic Rochester (USA) der »entscheidende Faktor für den erfolgreichen Kampf gegen die Ausbreitung der Seuche« gewesen.
76 Tage scharfer Lockdown
Als »zweite Lektion« nennt The Lancet die Erfahrung, dass »eine robuste wissenschaftliche Grundlage noch keine Garantie für eine effektive Kontrolle der Pandemie« ist, wenn nicht »die oberste politische Ebene alles daransetzt, den Ausbruch zu besiegen«. Die Regierungen müssten entschieden vorgehen und »so agieren, wie es für die Gesellschaft am besten ist«.
Als die Pandemie in Wuhan ausbrach, entsandte die Nationale Gesundheitskommission drei Gruppen von Experten für Infektionskrankheiten dorthin, um die Risiken von Covid-19 und die Übertragungswege der Krankheit festzustellen. Aufgrund ihrer Empfehlungen wurde die 11-Millionen-Stadt vollständig abgeriegelt und am 23. Januar ein scharfer Lockdown verhängt. Kurz darauf wurde auch in den anderen Städten der Provinz Hubei das öffentliche Leben drastisch heruntergefahren. Erst nach 76 Tagen wurden die Beschränkungen aufgehoben. In dieser Zeit war die Bewegungsfreiheit der Bevölkerung enorm eingeschränkt und die persönlichen Kontakte auf das Allernotwendigste reduziert. Wer aus dringendem Grund die Wohnung verlassen musste, war verpflichtet, eine Maske zu tragen und den Mindestabstand zu beachten. Die Einhaltung der Regeln wurde genau kontrolliert. An zahlreichen Kontrollstellen wurde Fieber gemessen und der Nachweis eines negativen Corona-Tests verlangt, um passieren zu dürfen. Wurde jemand ohne Maske gesichtet, konnte es passieren, dass er oder sie von einer herumfliegenden Drohne freundlich, aber bestimmt nach Hause geschickt wurde: »Ja, Tantchen, Sie sind gemeint. Sie sollten nicht ohne Maske draußen herumlaufen. Gehen Sie heim und vergessen Sie nicht, Ihre Hände zu waschen.«
Fangcang-Hospitäler und Millionen Tests
Während des Lockdowns, aber auch danach wurde umfangreich getestet. Positiv Getestete wurden sofort isoliert. Waren sie symptomfrei, wurde ihnen häusliche Quarantäne verordnet, bei leichter bis mittelschwerer Symptomatik wurden sie hospitalisiert.
Da die regulären Krankenhäuser von Wuhan in den ersten Wochen der Pandemie nicht ausreichten, wurden innerhalb kürzester Zeit zusätzlich sechzehn temporäre Krankenhäuser mit großen Schlafsälen betriebsfertig eingerichtet und die Zahl der verfügbaren Betten dadurch vervielfacht. Für drei dieser sogenannten Fangcang-Hospitäler wurden bestehende öffentliche Gebäude wie Kongresszentren oder Ausstellungshallen umgerüstet, die übrigen wurden aus Fertigteilen neu errichtet. Durch die Isolierung der Infizierten wurde einerseits eine weitere unkontrollierte Ausbreitung des Virus verhindert, und andererseits konnten die Patienten in den temporären Hospitälern eine medizinische Grundversorgung erhalten und bei Bedarf schnell in ein reguläres Krankenhaus verlegt werden.
Die Fangcang-Krankenhäuser konnten schon im März wieder geschlossen werden. Die großzügigen Testkampagnen wurden aber beibehalten und auch außerhalb der Provinz Hubei durchgeführt. Dadurch konnten neue Covid-19-Ausbrüche sofort eingedämmt werden. Business Insider: »Im Kampf gegen Corona werden auch ganze Städte durchkämmt. Im Mai testete Wuhan seine 11 Millionen Einwohner über einen Zeitraum von 10 Tagen … Am 9. Oktober kündigte die ostchinesische Stadt Qingdao an, dass sie alle 9 Millionen Einwohner innerhalb von fünf Tagen auf das Coronavirus testen werde, nachdem sie 12 neue Fälle im Zusammenhang mit einem örtlichen Krankenhaus identifiziert hatte. Ebenso wurden … alle Einwohner der Stadt Kaschgar in der Provinz Xinjiang getestet, nachdem es dort einen Ausbruch mit 183 Infektionen gegeben hatte.« Die Kosten der Massentests trug der chinesische Staat.
Das Ergebnis laut The Lancet: Bis zum 4. Oktober seien in China (1400 Millionen Einwohner) 90.604 bestätigte Covid-19-Fälle und 4739 Corona-Tote gezählt worden. In den USA (329 Millionen Einwohner) habe die Zahl der Fälle bis zu dem Tag 7.382.194 und die Zahl der Toten 209.382 betragen. Ein Wissenschaftlerteam an der Yale School of Public Health (New Haven, Connecticut, USA) habe errechnet, dass zwischen dem 29. Januar und dem 29. Februar durch die von China ergriffenen Maßnahmen 1,4 Millionen Infektionen und 56.000 Todesfälle verhindert wurden.
Beispielloses Engagement der Bevölkerung
Als vierten Erfolgsfaktor nennt The Lancet ein »breites Engagement der Bevölkerung«. Die Solidarität der Bevölkerung sei während des Covid-19-Ausbruchs in China »beispiellos« gewesen. Bereitwillig hätten die Menschen auch Maßnahmen akzeptiert, die als Einschränkung der individuellen Freiheit empfunden werden konnten, wie zum Beispiel die Pflicht zum Maskentragen in der Öffentlichkeit. Business Insider weist in dem Zusammenhang auf »die weniger individualistisch geprägte Kultur in der Region« hin: »Dort ist der Einzelne eher bereit, sich für das Allgemeinwohl einzuschränken.«
Aber das Engagement ging weit über das Tragen von Masken hinaus. Ärzte und Pflegepersonal aus ganz China kamen und arbeiteten rund um die Uhr bis zur totalen Erschöpfung, um das Leben der schwer erkrankten Patienten zu retten. Techniker und Bauarbeiter errichteten in Rekordzeit die Fangcang-Hospitäler. Menschen aller Berufe organisierten die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln und Medikamenten, brachten Personen, die besonders gefährdet waren oder wegen häuslicher Quarantäne ihre Wohnungen auch zum Einkaufen nicht verlassen durften, das Lebensnotwendige an die Tür, kümmerten sich um Alte, um Patienten mit anderen schweren Krankheiten, um Schwangere und Kinder und erfüllten tausend weitere Aufgaben.
Ein Hauptziel der Maßnahmen war die Aushungerung des Virus durch »Social Distancing«. Business Insider verweist auf eine im Juni in der Zeitschrift Science veröffentlichte Studie, die die menschlichen Interaktionen in den Großstädten Wuhan und Shanghai vor und nach der Pandemie verglich. Laut Studie seien »die täglichen Kontakte während der sozialen Distanzierungsperiode von Covid-19 um das Sieben- bis Achtfache reduziert w[o]rden, wobei die meisten Interaktionen auf den Haushalt beschränkt waren«. Soziale Distanz allein, wie sie in China während der Pandemie eingeführt wurde, reiche aus, um Covid-19 unter Kontrolle zu bringen.
Weltweite Solidarität gegen Covid-19
The Lancet fasst zusammen: »Jedes Land muss sich damit auseinandersetzen, dass Widersprüche zwischen Freiheit und Sicherheit bestehen. Manche Überwachungsmaßnahmen, die in China angewendet werden, wären anderswo nicht akzeptabel. Aber die chinesischen Erfahrungen zeigen die Bedeutung der Solidarität der Bevölkerung und was damit erreicht werden kann. So kann man mit Blick auf die Gesundheitsversorgung von China lernen.«
Ausdrücklich wendet sich der Autor des Lancet-Editorials gegen den Versuch, China zum Sündenbock für die Pandemie zu machen. Notwendig sei vielmehr eine weltweite offene Zusammenarbeit, wie sie auch UN-Generalsekretär António Guterres gefordert habe. Denn »der Mangel an globaler Solidarität bei der Bekämpfung von Covid-19 stellt gerade in einer geopolitisch instabilen Situation eine Gefahr für uns alle dar«.