Ohne die Mitteilung auf dem Umschlag, dass jemand »süchtig« geworden sei bei der Lektüre, wenn ihn ein Buch in den Bann geschlagen hat, geht es wohl nicht mehr ab. So auch nicht bei diesem wundervollen und wundersamen Roman, der einen zu fesseln vermag, den man immer weiterlesen will, der in einem weiterwühlt: Es ist »Omertà« von Andrea Tompa, die mehr als 900 Seiten Reden gegen das nach Mafia klingende Schweigegebot darf man getrost literarisches Ereignis nennen. »Ţi-ai semnat Omerta?« wird die Nonne Eleonóra gefragt, die im Zuge politischer Säuberungen ins Gefängnis geworfen wurde – »Hast du den Schweigebefehl unterschrieben?« Natürlich wird er unterschrieben, denn das ist die Voraussetzung für die Freilassung. Frei wird man natürlich nicht in dieser Volksrepublik Rumänien Gheorghiu-Dejs, aus der 1965 Nicolae Ceauşescus Sozialistische Republik Rumänien wurde – nicht weniger repressiv und ebenso grausam. Der »kleine Ceauşescu« schreit auch schon kräftig herum in der Erzählung des Rosenzüchters Vilmos Décsi, denn der kommt der Bukarester Partei-Elite ziemlich nahe, nachdem seine Kreuzung auf einer Pariser Ausstellung prämiert wurde. Wer den Ruhm des Landes mehrt und dabei die Prämissen sowjetischer Wissenschaft (in den frühen Jahren der »Volksdemokratie Rumänien« war das noch geboten) beachtet, der wird geehrt, sogar vom Erfinder schrecklicher Foltermethoden, Gheorghe Gheorghiu-Dej. Da spielt es dann auch keine Rolle, dass der Laureat Ungar ist und in Siebenbürgen, in der Nähe von Koloszvár (deutsch Klausenburg, rumänisch Cluj, unter Ceauşescu Cluj-Napoca) wohnt. Wahrlich meisterhaft erzählt Andrea Tompa über diese problembeladene Region, die erst nach dem Ersten Weltkrieg zu Rumänien kam. Die kommunistische Führung argwöhnte noch Jahrzehnte später, dass die Siebenbürger lieber zu Ungarn »zurückwollten«, die Politik Bukarests, aber auch Ungarns, trieb dabei bizarre Blüten. Wie nebenbei besucht man während der Lektüre ein intensives Seminar über die Geschichte Südosteuropas.
Das Wundersame, Meisterhafte des Romans besteht im Schreibstil der Autorin, der nie belehrend ist. Sie lässt vier Menschen, drei Frauen und einen Mann, gegen den Schweigebefehl anreden: Kali, Vilmos, Annuschka, Eleonóra – aller Schicksale sind miteinander verwoben, wobei auch Liebschaften eine gewichtige Rolle spielen. Kali ist ihrem brutalen Mann davongelaufen, sie wird Dienstmädchen beim Rosengärtner, auch Geliebte, Frau des Vertrauens und Mutter eines Kindes. Annuschka ist eine sechzehnjährige Halbwaise, sie verliebt sich in Vilmos. Ihre Schwester Eleonóra wird Nonne und gerät in Säuberungsaktionen der rumänischen Kommunisten, die nach Stalinscher Manier ab und zu die Christen ins Visier nahmen und die Securitate ihr Schreckensregime entfalten ließ.
Die faszinierendste Erzählung ist wohl die Vilmos Décsis. Der zurückgezogen lebende Gärtner, der Rosen züchtet, weil er sie liebt, macht in der Zeit der Kollektivierung der Landwirtschaft halb wider Willen Karriere. Sein recht »naturnaher« Garten wird Versuchsgelände, wo nach den »Lehren« Mitschurins und Lyssenkos gezüchtet wird. Vilmos wird von der Securitate belauert, schon deswegen, weil er einst dem rumänischen König eine Rose verkaufen musste. Doch die Bespitzelung hindert ihn nicht daran, der als Übersetzerin verkleideten Agentin so nahe zu kommen, dass er sich über deren Unterwäschequalitäten auslassen kann.
Das perfide System, mithilfe der Wünsche, die jemand hegt – Vilmos möchte natürlich gern ein anerkannter Rosenzüchter sein – parteipolitische Ziele zu verwirklichen, das wird am Beispiel seiner Biografie vorgeführt. Vilmos’ Reise nach Paris, seine Ehrung dort und die Würdigung in Bukarest durch die Partei, das erreicht, obwohl derb und urkomisch erzählt, die Dimension einer Tragikomödie. Das Resümee der Schicksale aller vier Erzähler, komprimiert auf anderthalb Seiten, ist bewegend zu lesen.
Der meisterhafte Roman wurde meisterlich übersetzt von der Schriftstellerin Terézia Mora. Die sprachliche Kraft, mit der sie die vier Monologe daherkommen lässt, verdient Bewunderung. Da Dialekt, aber auch Ungarisch und Rumänisch einfließen mussten, ist etwas wie eine eigene Sprache entstanden, die so eindringlich ist, dass nur wenige Erklärungen und Fußnoten erforderlich sind.
Das gehört auch zur Virtuosität dieses Buches: Obwohl es den scheinbar weit entfernten und scheinbar lange zurückliegenden Irrsinn einer Region im Interessenkonflikt zweier Länder, vermeintlicher »Bruderländer«, schildert, hat man immer das Gefühl, das alles sei ganz heutig und könne jederzeit von vorn beginnen. Oder hat das alles, im Lichte gegenwärtiger Erfahrungen, noch gar nicht aufgehört?
Wer etwas über den Zustand Europas, der sich in diesem Buch in einer aberwitzigen Vergangenheit spiegelt, erfahren will, der lese dieses Buch. Und was ganz selten ist: Obwohl es etwas zu lernen gilt – es ist ein Lesegenuss.
Andrea Tompa, Omertà. Roman, aus dem Ungarischen von Terézia Mora, Suhrkamp Verlag 2022, 954 S., 34 €.