In unruhigen, unsicheren, unübersichtlichen Zeitläuften wie den gegenwärtigen, in denen sich »utopische Energien erschöpft« haben – wie Jürgen Habermas schon 1985 schrieb –, öffnen sich Räume für »regressive politische Energien«, und »rechte Bedrohungsallianzen« bilden sich heraus. Der renommierte Sozialwissenschaftler Wilhelm Heitmeyer, ehemaliger Direktor des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld, hat diese Problematik zusammen mit den Wissenschaftlern Manuela Freiheit und Peter Sitzer untersucht und die Studie im Oktober 2020 als Teil II seiner 2018 begonnenen Reihe »Signaturen der Bedrohung« veröffentlicht.
Heitmeyer hat schon vor rund zehn Jahren das theoretische Modell eines »konzentrischen Eskalationskontinuums« präsentiert und in einer Langzeitstudie begleitet. Ganz außen stehen in diesem Modell menschenfeindliche Einstellungen in der Bevölkerung, in seinem Zentrum terroristische Zellen, dazwischen organisierte Akteure des autoritären Nationalradikalismus, »Vordenker«, systemfeindliche Milieus und Unterstützernetzwerke. »Die Grenzen zwischen dem rechten und dem demokratisch-konservativen Segment des Parteienspektrums werden durchlässig. Die Gewaltbereitschaft nimmt von außen nach innen zu, die jeweils äußere Schicht liefert ihrer inneren Nachbarin Legitimation.«
Als Ursache diagnostizieren die Forscher »ökonomische und sozial-kulturelle Verwerfungen«. »Kapitalistische Landnahmen, soziale Desintegration und Demokratieentleerung« ließen das Vertrauen in das demokratische System schwinden, eine Ausdifferenzierung, Intellektualisierung und Dynamisierung des rechten politischen Spektrums seien zu beobachten.
Die Studie wurde Mitte vergangenen Jahres abgeschlossen. Die Analyse der seitherigen, von der Corona-Pandemie maßgeblich beeinflussten Entwicklung dürfte demnach Thema eines Folgebandes sein. Die Autoren verweisen jedoch auf den Unterschied zwischen der augenblicklichen Krise und den letzten großen Eruptionen: 9/11 in 2001, Hartz IV ab 2005, die Banken- und Finanzkrise 2008/2009, die sogenannte Flüchtlingskrise 2015. Die früheren Krisen wären mit einer zeitlichen Staffelung eingetreten und hätten unterschiedliche Gruppen der Bevölkerung mit unterschiedlichen Risiken und Kontrollverlusten getroffen. Vor allem aber hätten sie sich »im Rahmen stabiler ökonomischer Zustände« als »Krisen in Teilsystemen« ereignet. Zu ihrer Bewältigung hätten die notwendigen Instrumente zur Verfügung gestanden. Corona jedoch habe die »Logik der Beherrschbarkeit von Krisen in hoch differenzierten Gesellschaften« zertrümmert.
Leitende These der Studie ist, dass es im rechten politischen Spektrum in den letzten Jahren zu einer Bündelung der Kräfte in den Bewegungen, Parteien und Netzwerken gekommen ist, damit einhergehend zu einer »bislang ungekannten Dynamisierung von Bedrohungen für die offene Gesellschaft und die liberale Demokratie«, bis hin zu tödlicher terroristischer Gewalt: dem Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke im Juni 2019; dem Anschlag auf die Synagoge und die beiden Morde im Oktober 2019 in Halle; dem Anschlag in Hanau im Februar 2020, bei dem neun Bürger mit Migrationshintergrund getötet wurden.
Die Wissenschaftler analysieren in den einzelnen Kapiteln der Studie an konkreten Beispielen und Vorkommnissen die Bedrohungs- und Zerstörungsaktivitäten rechter Gruppen und Individualtäter. Die rechten Allianzen vereine das Bestreben, »eine autoritäre Entwicklung bis zu einer geschlossenen Gesellschaft und einer illiberalen Demokratie herbeizuführen«.
Ihre feindlichen Einstellungen vor allem gegen Asylbewerber, Sinti und Roma, Behinderte, Langzeitarbeitslose und Obdachlose hätten einen gemeinsamen Kern: die Ideologie der Ungleichwertigkeit, gerichtet gegen ethnisch-kulturell oder religiös »Fremde«, aber auch gegen »Gleiche«, die als »normabweichend« definiert werden. Treibmittel seien Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Islamfeindlichkeit, Antisemitismus, Homophobie und Sexismus.
Abschließend werfen die Verfasser der Studie einen kurzen Blick auf das »eingedunkelte Europa«, auf jene Staaten, in denen der autoritäre Nationalradikalismus auf dem Vormarsch ist. In einem Postskriptum gehen sie auf die Corona-Pandemie und die neu aufgekommenen Verschwörungsideologien und Radikalisierungskonstellationen ein, denen vor allem eine »individualisierte Melange von Menschen mit unterschiedlichen Anliegen und ohne eigenes Gruppenbewusstsein« zuneige. Ihnen gesellten sich aber im realen Raum, bei Demonstrationen also, und in den virtuellen Räumen der Internet-Medien »Akteure zu, die durchaus über ein dezidiertes ideologisches Gruppenbewusstsein, eine klare Agenda sowie über erprobte Mobilisierungskonzepte und Fake-News-Strategien« verfügten.
Es gibt Bücher, die kommen zur rechten Zeit.
Heitmeyer/Freiheit/Sitzer: Rechte Bedrohungsallianzen, edition suhrkamp, Band 2748, 326 Seiten, 18 €. – Der eingangs erwähnte Text von Jürgen Habermas ist online verfügbar: www.merkur-zeitschrift.de/autoren/die-neue-unuebersichtlichkeit