Kürzlich wurde nun endlich die documenta fifteen eröffnet. Aber schon lange zuvor wurde sie mit einem langsam anschwellenden Chor über das Versagen, die Unverantwortlichkeit, den Skandal, das Desaster, die Schande und natürlich den Antisemitismus der ganzen Veranstaltung begrüßt. Bundespräsident Steinmeier hatte schon vor dem ersten Rundgang allen Vorwürfen seine präsidiale Lizenz gegeben und der Ausstellung unterstellt, es werde die Existenz Israels angegriffen. Bisher hat es dafür keinen Beweis gegeben. Aber der Eklat war da, als an zentralem Ort auf dem Friedrichsplatz vor dem Fridericianum das große Banner »People’s Justice« des indonesischen Künstlerkollektivs Taring Padi aufgezogen wurde, auf dem unter zahllosen anderen nun auch zwei problematische Figuren entdeckt wurden. Während der eine Kopf mit Schläfenlocken und SS-Runen auf dem Hut eine eindeutig antisemitische Ikonographie spiegelt, muss man das bei der zweiten Figur durchaus bezweifeln. Was macht die Darstellung eines Soldaten mit Schweineschnauze in einer Reihe weiterer schweineschnäuziger Soldaten antisemitisch, nur weil auf dessen Helm die Aufschrift »Mossad« steht? Der Mossad, offiziell »Institut für Aufklärung und Sonderoperationen« hat weltweit einen Ruf wie Donnerhall, wie der Spiegel schon 2011 schrieb: »Der Grund sind spektakuläre Operationen – gezielte Tötungen inklusive«, sprich Mord, zahlreich und in staatlichem Auftrag. Dieser Mossad-Mann läuft in einer Reihe inmitten weiterer Soldaten, auf deren Helmen M-I5, KGB und 007 prangt. Es ist doch offensichtlich, dass »People’s Justice« nicht die Juden richten soll, sondern kriminelle und höchst gewalttätige Institutionen eines militärischen Geheimdienstapparats, unter denen der Mossad in der Tat eine prominente Rolle einnimmt. Was ist daran antisemitisch, etwa antirussisch oder antibritisch?
Doch dann ist schon lange das palästinensische Künstlerkollektiv »The Question of Funding« im Fadenkreuz der Antisemitismus-Jäger: die Bilderserie »Guernica Gaza« von Mohammed Al Hawajri, mit der er friedliche ländliche Szenen aus dem klassischen Repertoire der europäischen Malerei mit Fotografien israelischen Militärs im Anschlag auf der zweiten Bildhälfte konfrontiert. Das ist »israelbezogener Antisemitismus« und ziele auf die »Delegitimierung und letzten Endes die Abschaffung Israels«, heißt es bei NDR Kultur (24.4.22). Das präge diese Documenta insgesamt. Wie könne man »israelische Terrorbekämpfung im Gazastreifen« mit der Nazi-Bombardierung einer spanischen Stadt vergleichen? Wer allerdings die Kriege, die die israelische Armee 2008/2009, 2012, 2014 und 2021 mit tausenden von Toten und zigtausend Verwundeten gegen den Gazastreifen geführt hat, als Terrorbekämpfung rechtfertigt, hat offensichtlich immer noch nicht begriffen, dass nicht Gaza Israel besetzt hat, sondern Israel den Gazastreifen immer noch besetzt und bis zur Unbewohnbarkeit blockiert.
Hinter diesen absurden Anschuldigungen steckt offensichtlich die Angst, dass ein Thema, welches bisher erfolgreich aus der hiesigen Diskussion herausgehalten und tabuisiert werden konnte, über den offenen Marktplatz der Documenta uns nun von außen aufgezwungen wird. Gibt es einen Zusammenhang zwischen der täglichen Gewalt und Apartheid der israelischen Besatzungspolitik und dem steigenden Antisemitismus nicht nur in Deutschland? Ruangrupa und nicht wenige Künstlergruppen aus Asien, Afrika und Lateinamerika würden das zweifelsohne bejahen. Die ständigen eindeutigen und mit großer Mehrheit erfolgenden Verurteilungen der israelischen Besatzungspolitik in der UNO illustrieren nur ihre weltweite Ablehnung. Indonesien hat aus diesem Grund den Staat Israel bis heute nicht anerkannt. Und wir sollten uns nicht wundern, wenn diese Ablehnung nicht nur mit Resolutionen, sondern immer wieder mit »antisemitischen« Symbolen manifestiert wird. Dabei ist trotz aller Definitionsversuche überhaupt nicht gesichert, wo der Antisemitismus beginnt. Hat der Deutsche Bundestag vor drei Jahren im Mai 2019 die BDS-Bewegung pauschal als antisemitisch eingeordnet, so hat genau ein Jahr später der Europäische Gerichtshof für Menschenrecht am Boykottaufruf der Bewegung keine antisemitische Färbung erkennen können.
Doch hier beginnen die Probleme – nicht der documenta fifteen und ihres Kuratorenkollektivs, sondern ihrer Kritiker und Kritikerinnen. In einem wahren Antisemitismus-Orgasmus wollen sie alles abräumen, nicht nur das Banner »People’s Justice«, auch Ruangrupa soll sich aus Kassel zurückziehen, Claudia Roth soll gehen und mit ihr ihre Parteifreundin, die hessische Kulturministerin Angela Dorn, und natürlich auch die Geschäftsführerin der Documenta Sabine Schormann (FAZ v. 24.6.22). Wie lange wird sich noch »The Question of Funding« mit ihrer Bilderserie »Guernica-Gaza« halten können? Wann wird man Künstlerinnen und Künstlergruppen mit BDS-Sympathie dingfest machen? Die ganze Ausstellung sei vergiftet von diesem »staatlich alimentierten Antisemitismus«. Da hilft wohl nur eines: am besten tabula rasa, alles abräumen, Strafanzeige wegen Volksverhetzung ist schon gestellt worden. Und mittendrin wird immer noch die Fahne der Kunstfreiheit hochgehalten – reichlich ramponiert und zerfetzt nach einer Woche Documenta. Der Verdacht drängt sich auf, die Wut der Ablehnung trifft nicht nur zwei, drei »antisemitische« Bilder, sondern die gesamte Konzeption einer fremden und fremd gebliebenen Kuratorengruppe.
Denn das, was wir erleben, ist schlicht Zensur, selbst wenn man das nicht hören mag. Und die Kulturstaatsministerin hat schon ein umfangreiches Aufsichtskonstrukt für die nächste Documenta in fünf Jahren angedroht. Was geht hier vor? Man lädt aus einem fernen muslimischen Land mit einer 350 Jahre langen Kolonialgeschichte voll Gewalt und Unterdrückung eine hier dem Publikum weithin unbekannte Künstlergruppe ein. Sie soll eine Weltausstellung – keine deutsche – gestalten, und nun geben sich die Verantwortlichen empört über das, was sie präsentiert. Die Entscheidung war seinerzeit ein mutiger und erfreulicher Ausbruch aus dem immer noch kolonial grundierten euro-atlantischen Kunstkreis. Hat man erwartet, dass diese Künstlerinnen und Künstler ihre Auseinandersetzung mit Unterdrückung und Kolonialismus auf ihr Land beschränken und nicht in den internationalen Kampf gegen den noch andauernden Kolonialismus und die Apartheid stellen? Hat man erwartet, dass Palästinensische Künstler blühende Orangenhaine ohne die israelische Armee und Siedler malen, die sie regelmäßig überfallen und zerstören? Hätte man die Einladung israelischer Künstlerinnen und Künstler zur Bedingung der Ausstellung machen sollen? Allein die Frage erweist schon ihren Widersinn. Die Israeli konnte man auf der letzten Biennale in Venedig in ihrem eigenen Pavillon erleben, wo sie unter dem Motto »Land. Milk. Honey« die Kolonisierung und Fruchtbarmachung eines »heruntergekommenen und leeren Landes« in ein »Land der Fülle« fotografisch dokumentierten (Ossietzky 15, 2021). Wer sollte sie einladen?
Der Versuch, wenigstens die internationale Kunst von den Fesseln der deutschen Geschichte zu befreien, ist offensichtlich gescheitert. Die Frage bleibt, ob die Beseitigung der Bilder irgendetwas zur Überwindung des Antisemitismus beiträgt, oder ihn eher fördert. Die Diskussion über die inkriminierte Kunst ist nicht mehr möglich, da sie nicht mehr da ist. Die indonesischen Künstlerinnen und Künstler waren immerhin so höflich, sich zu entschuldigen, Empfindlichkeiten ihrer Gastgeber berührt zu haben, anstatt ihre Sachen zu packen und Kassel zu verlassen. Auf Kunstfreiheit sollte man sich allerdings jetzt nicht berufen. Die Documenta ein Fiasko? Nein, ein Fiasko der Kunstfreiheit.