Im Original heißt das Zitat: Quod licet Iovi, non licet bovi. Was Jupiter erlaubt ist, darf der Ochs keineswegs. Im übertragenen Sinne: Was Trump nachgesehen wird, darf sich Putin nicht erlauben. Natürlich hinkt der Vergleich. Der amerikanische Präsident hat die Tötung des iranischen Generals Soleimani durch eine ferngesteuerte Kampfdrohne nach eindeutiger Beweislage selbst befohlen und ist damit rechtlich voll verantwortlich, während der russische Präsident Putin für den Giftanschlag auf seinen Kritiker Nawalny nur politisch verantwortlich gemacht wird.
Aber darum geht es hier nicht. Es ist die Verlogenheit bei der öffentlichen Beurteilung beider Vorgänge, die einem, auch mit Blick auf den Mord an dem Journalisten Khashoggi durch ein Killerkommando des saudi-arabischen Herrscherhauses, den Atem verschlägt. Das beispiellos scheußliche Verbrechen blieb wie der Mord an Soleimani ohne jenes lärmende Echo, das wir im Fall Nawalny erleben. Dass ausgerechnet Heiko Maas, der von sich sagt, er sei wegen Auschwitz in die Politik gegangen, die Propagandatrommel am lautesten schlägt und der Doppelmoral so zu einem gewissen Rang verhilft, verstehe wer mag. Ein deutscher Außenminister sollte schließlich im Hinterkopf haben, was Deutsche dem russischen Volk im Zweiten Weltkrieg angetan haben. Hauptsächlich auf sein Betreiben hin hat die Europäische Union Sanktionen gegen Russland beschlossen. Die Einreisesperren gegen einige Personen sind dabei nicht das Wichtigste. Vorrangiges Ziel ist die moralische Beschädigung des Ansehens der Russischen Föderation im globalen Machtpoker.
Begründet hat Maas gemeinsam mit seinem französischen Amtskollegen Le Drian die Sanktionen mit der Behauptung, Russland habe bislang nicht glaubhaft auf den grausamen Mordversuch an Nawalny reagiert. Mit Verlaub: Wer entscheidet darüber, ob eine Reaktion glaubhaft ist oder nicht? Der deutsche Außenminister? Die russische Antwort auf die Anmaßung ließ nicht auf sich warten. Außenminister Lawrow hielt den deutschen Behörden vor, entgegen internationalen Rechtsvorschriften immer noch keine Beweise für eine Vergiftung Nawalnys vorgelegt zu haben. Und an die Adresse der EU gerichtet sagte er, die für die Außenpolitik zuständigen Amtsträger verstünden nicht die Notwendigkeit eines von gegenseitiger Wertschätzung geprägten Gesprächs. »Vielleicht sollten wir für eine Zeit einfach aufhören, mit ihnen zu sprechen.«
Ob die Damen und Herren in Brüssel verstanden haben, was Lawrow damit sagen wollte? Haben die Außenminister Deutschlands und Frankreichs sich nicht überhoben, als sie behaupteten, es gebe »keine andere plausible Erklärung für die Vergiftung von Herrn Nawalny als eine russische Beteiligung und Verantwortung«? Man stelle sich vor, jemand hätte Deutschland vorgeworfen, für die Mordserie des Nationalsozialistischen Untergrunds in der Zeit zwischen 2000 und 2007 gebe es keine andere plausible Erklärung, als eine deutsche Beteiligung und Verantwortung. Vor Gericht wäre damit niemand weit gekommen.
Im Fall Khashoggi hat sich die EU nicht auf Einreisesperren gegen 18 saudische Staatsangehörige verständigen können. Auch der Mord an der maltesischen Journalistin Galizia blieb ohne gemeinsame Reaktion. Präsident Juncker und die EU-Kommission verurteilten den Anschlag zwar, wie es hieß, mit den »schärfstmöglichen Worten«, ansonsten blieb das Verbrechen für das EU-Mitglied Malta auch drei Jahre danach ohne Folgen.
Welche Maßstäbe die Europäische Union gegenüber ihrem Schoßkind Ukraine anlegen wird, wo laut Süddeutscher Zeitung vom 16. Oktober seit der Unabhängigkeit im Jahr 1991 weit über 50 Journalisten ermordet wurden, bleibt abzuwarten. Die EU hat der Ukraine nach offiziellen Angaben seit 2014 mit 3,3 Milliarden Euro unter die Arme gegriffen. »Kein anderes nicht der EU angehörendes Land erhielt eine derart hohe Finanzhilfe«, rühmte sich die Europäische Kommission am 30. November 2018. Haben die europäischen Kämpfer für Rechtsstaatlichkeit und Menschenwürde von der Regierung in Kiew schon eine plausible Erklärung für die Morde an 50 Journalisten eingefordert? Oder halten sie es auch in dem Fall lieber mit dem »Quod licet Iovi, non licet bovi«?