Im vom Volksmund verbreiteten »Rheinischen Grundgesetz« lautet der Paragraph 2: »Et es wie et es« – Sieh den Tatsachen ins Auge. Am Rosenmontag, für Karnevalisten normalerweise der höchste Feiertag, sendete das ZDF zum Auftakt des Nachmittags eine Konserve aus dem Jahr 2018, die Kochsendung »Stadt, Land, Lecker«, und nicht, wie sonst in all den Jahren, die Live-Übertragung der Umzüge aus den Karnevalshochburgen.
Die Begründung wurde Online geliefert: »Helau und Alaaf im Shutdown – Stell Dir vor, es ist Rosenmontag, und keiner geht hin. Wo sonst Abertausende Narren und Jecken toben: dieses Jahr nur leergefegte Gassen.«
Die Karnevalisten in Ost und West und Süd und Nord, von Bayern (Veitshöchheim) über Mainz und weiter rheinabwärts bis Köln und Düsseldorf hatten den Tatsachen ins Auge gesehen und Haltung gezeigt. Alle öffentlichen und nichtöffentlichen Veranstaltungen und Zusammenkünfte waren abgesagt. Tote-Hosen-Tag statt Rosenmontag.
Fast kann man von einer Periodizität sprechen, hat sich doch solch ein Vorgang in der noch jungen bundesdeutschen Geschichte schon zum dritten Mal ereignet, jeweils im Abstand von 30 Jahren. 1962 stand nach dem Mauerbau im August des Vorjahres und der großen Sturmflut im Februar in Hamburg der Stimmungspegel bundesweit unter null. 30 Jahre später, 1991, erstickte der Zweite Golfkrieg hierzulande Freude und Frohsinn. Hinzu kam die Furcht vor Anschlägen auf die Menschenansammlungen am Straßenrand der großen Städte. Und jetzt, wiederum 30 Jahre später, die Pandemie, und erneut war das Verantwortungsbewusstsein der Spaßvögel gefragt. Die Entscheidung fiel ohne Wenn und Aber: Dieses Mal war nicht »am Aschermittwoch alles vorbei«, sondern es fing am 11.11. erst gar nicht an.
Karneval, das ist Gemeinschaftsgefühl. Das ist Singen und Feiern und Tanzen und Lachen und noch so vieles mehr. Auf dem Markt, auf den Plätzen, in den Sälen. Ich bin damit großgeworden. Für uns Dorfkinder war die »fünfte Jahreszeit« so etwas wie Weihnachten und Ostern an einem Tag. Und als wir dann älter wurden, sehnten wir den 16. Geburtstag herbei, an dem wir endlich auf Kappensitzungen gehen konnten. Der Jugendschutz wurde damals sehr ernst genommen, der Ortspolizist und das Jugendamt hatten uns im Auge.
»Mainz (bleibt Mainz,) wie es singt und lacht«, wurde am 17. Februar 1955 erstmals im Fernsehen übertragen, karnevalistisch angepasst um 20.11 Uhr beginnend. Solch ein neumodisches und teures Gerät gab es bei uns zuhause damals noch nicht. Aber Ende der 1950er Jahre stand ein Fernseher im Wohnzimmer von Freunden, und seitdem habe ich so gut wie keine Sendung verpasst. Ich erinnere mich noch an die »historische« Ausstrahlung im Februar 1964, als der »singende Dachdeckermeister« Ernst Neger zum ersten Mal »Humba Täterä« sang und das Publikum im Großen Saal des Kurfürstlichen Schlosses zu Mainz sich nicht beruhigte und es, Zugabe um Zugabe, zu einer einstündigen Überziehung der Fernsehübertragung kam. Bei einem Marktanteil von 89 Prozent hatte jedermann dafür Verständnis.
Traditionell wird die Sitzung am Freitag vor den drei tollen Tagen abwechselnd von der ARD oder dem ZDF übertragen. Am 12. Februar dieses Jahres war der Saal des Schlosses nicht wiederzuerkennen. Hygieneregeln führten Regie. Es gab keine schunkelnde Masse. Einige Dutzend Mitwirkende verloren sich im geschmückten Rund, voneinander getrennt im Hygiene-Abstand durch Närrinnen und Narren aus Pappe. Der Narrhallamarsch kam vom Band. Ebenso der Applaus. Auch die fränkischen Fastnachter boten dem Virus Paroli. Sie präsentierten, aus Veitshöchheim am Main, bundesweit ausgestrahlt vom BR, unter dem Motto »Jetzt erst recht« ihr Hygiene-gemaßregeltes Programm, ebenfalls mit Saal-füllenden Pappkameraden. Der Dirigent der Musikkapelle stand allein vor seinem Orchester – aus lauter Teddybären.
Not macht erfinderisch, und so realisierten die Kölner Narrhallesen die wohl anrührendste Idee der diesjährigen Kampagne. Pünktlich um 14 Uhr hieß es am Rosenmontag im WDR: »D’r Zooch kütt«, und er kam: »Der ausgefallenste Zoch!« unter dem Motto: »Nur zesmme sin mer Fastelovend«. Die Jecken des Festkomitees Kölner Karneval hatten sich mit dem legendären, seit 1802 spielenden Hänneschen-Theater zusammengetan und einen Puppenspielzug kreiert, zwar im Miniaturformat, aber trotzdem provokant und politisch wie eh und je. »Alles sieht aus wie in echt, von den Funkenmariechen über Musikkapellen und Pferde bis zum großen Finale mit dem Dreigestirn. Die Persiflage-Wagen sind genau nach den ursprünglichen Plänen gebaut«, verkündete der Zeremonienmeister. Statt durch die Straßen zog der Zug durch die Wagenbauhalle des Festkomitees, unter Mitwirkung sämtlicher Puppenspieler des Theaters. Eine einzigartige und wahrscheinlich einmalige Produktion – in dieser Pandemie-bedingten Februar-Tristesse.
Trost kann allein nur Ernst Neger spenden, wie schon seit 70 Jahren: »Heile, heile Gänsje / Es is bald widder gut, / Es Kätzje hat e Schwänzje / Es is bald widder gut, / Heile heile Mausespeck / In hunnerd Jahr is alles weg.«