Was immer uns tatsächlich oder vermeintlich guttut, was uns schmeckt oder schmückt, was uns ehrt oder Anerkennung verschafft, davon wollen wir mehr, jedenfalls die meisten von uns, und zwar möglichst sofort, ohne Aufschub. Dabei bringt uns dieses Mehr ab einem bestimmten Punkt in Wahrheit gar keinen zusätzlichen Nutzen mehr ein, verursacht aber natürlich externe Kosten – seien es Rohstoff- oder Energiekosten beispielsweise –, die wir ausblenden oder geringschätzen. Mehr! Immer mehr! Weiter, immer weiter.
Ein solches Fortschreiten, das kein Ziel kennt, wird zum rasenden Stillstand. Effizienz- wie Renditejäger, die uns ewiges Wachstum predigen und am Ende nur mehr verwüstetes Gelände hinterlassen – ökologisch, sozial, psychologisch und auch wirtschaftlich –, haben jedes Maß verloren. Und wir in mancher Hinsicht mit ihnen.
»Protect me from what I want«, möchte man da ausrufen. Solches Hilfsbegehren, wie es schon Mitte der 1980er Jahre von der Konzeptkünstlerin Jenny Holzer formuliert und um die Jahrtausendwende von der Gruppe Placebo zu einem Song verarbeitet wurde, bringt es ganz wunderbar auf den Punkt: Die verheerende Steigerungslogik unseres Lebens und Wirtschaftens verdankt sich nicht nur sinistren Geschäftemachern, die uns jeden Dreck für Gold verkaufen. Sie ist auch nicht ausschließlich einem irgendwie zentral gelenkten kapitalistischen Räderwerk anzulasten, das die Gesellschaften und Staaten zu beherrschen trachtet. Nein, der Treibstoff all dessen, das hat spätestens das Internet bis zur Kenntlichkeit deutlich werden lassen, sind wir, unsere Wünsche und Fantasien. Und es wäre in vielerlei Hinsicht tatsächlich besser, wenn uns jemand oder etwas vor den eigenen Begehrlichkeiten schützen würde.
Das ist natürlich keine ernstgemeinte Forderung, aber als Gedankenspiel durchaus erkenntnisfördernd. Der Kapitalismus hat bekanntlich seinen Anfang genommen, als die Menschen anfingen, Zäune zu bauen – so Jean-Jacques Rousseau in seiner Schrift »Diskurs über die Ungleichheit« (18. Jahrhundert). Warum die Menschen anfingen, Zäune zu bauen, lässt sich also schwerlich aus der darauf beruhenden Wirtschaftsweise herleiten. Das ist den Leuten offenbar ganz von allein eingefallen. Auch die Kapitaleigner von heute sind nicht zuletzt unsere Schöpfung.
Die Automobilkonzerne verkaufen Stadtgeländewagen, die zwar niemand braucht, die aber offenbar bei Käuferinnen und Käufern einen Mangel kurieren, den sie vielleicht spüren, aber nicht benennen können; das Internet ist in seinen Anfängen ganz maßgeblich durch Sex-Angebote großgeworden; Dating-Dienste gehören zu den am meisten besuchten Online-Plattformen; Google, Facebook, Twitter & Co. sind soziale Wunschmaschinen, die von Freundschaft, Gemeinschaft und Teilhabe träumen lassen und von ihren Nutzern nicht einmal Geld verlangen, sondern sie nichts weiter als Zeit »kosten«, darüber aber als »Kapital« eine Werbe- und besorgniserregende Datenmacht entfalten, die ihresgleichen sucht; etliche »Vergleichsportale« und tausende Onlineshops, mit Amazon an der unangefochtenen Spitze, bieten mir heute nahezu täglich Dienste und Produkte an, von deren Existenz ich bis dato nicht die geringste Ahnung hatte und die in Anspruch zu nehmen mir von allein nie in den Sinn gekommen wäre.
Das Irre ist: Es funktioniert. Wir machen in großer Zahl mit. Wir kaufen und klicken milliardenfach. Ich kann mich da selbst gar nicht ausnehmen, obwohl ich sicher alles andere als ein »digital native« bin. Aber auch ich frage mich manchmal – nachträglich –, warum ich das Buch jetzt bei Amazon und nicht beim Buchhändler um die Ecke bestellt habe. Weil es einfacher ist, bequemer ist, weil es schneller geht? Schöner ist es in keinem Fall, weil der Besuch der Buchhandlung nicht nur »sinnlicher«, sondern auch sozial »wertvoller« gewesen wäre; mindestens ein kurzes Gespräch ist dort obligatorisch.
Aber solcher »Wert« scheint im Rasen der Gegenwart zunehmend zu verblassen. Ich empfange einen Reiz (Buchempfehlung), der Reiz erzeugt einen Wunsch (Buchkauf), und dieser Wunsch löst eine sofortige Reaktion aus. »Eins, zwei, meins.« Ganz einfach, ganz schnell. Ohne Bedenken. Ich will es, ich kann es. Also mache ich es. Aber so etwas, wie gedankenverloren auch immer, zu tun und mit dem nächsten Atemzug auf die Internet-Riesen, die Discounter, die Pauschalreisen-Anbieter, die Agrar- und Automobilkonzerne zu schimpfen, weil sie die Welt zu einem unwirtlichen Ort machen, ist nicht wirklich schlüssig. Solange das eigene Handeln dem eigenen Denken zuwiderläuft, bleibt es wahnsinnig schwer, vielleicht aussichtslos, die Dinge zum Besseren zu wenden.
Immerhin scheint sich diese Erkenntnis langsam zu verbreiten. Interessanter- und auch überraschenderweise Weise beginnen vor allem junge Leute, die ja, zumindest in den reichen Industrieländern, ohne nennenswerte Mangelerfahrungen aufgewachsen sind, zu begreifen, dass die schnelle Befriedigung insbesondere der vielen durch Reklame geweckten Begehrlichkeiten mit Bedürfniserfüllung rein gar nichts zu tun hat. Denn obwohl so viele ihrer Wünsche stets erfüllt wurden, bleiben sie irgendwie bedürftig, empfinden eine Unzufriedenheit, die sie sich schwer erklären können, manchmal sogar einen Zorn, der sie ohne erkennbaren Anlass aggressiv werden lässt. Etwas stimmt nicht, sowohl mit ihnen wie auch mit der sogenannten Realität, in der als »normal« gilt, was ein zumeist begriffsloses Leiden verursacht.
So sind die heute Jugendlichen und jungen Erwachsenen zwar mit den elektronischen Medien wie selbstverständlich aufgewachsen und wissen mit ihnen entsprechend umzugehen, stehen den »Segnungen« der Technik wie der Wirtschaft aber zunehmend skeptisch gegenüber. Viele nehmen, völlig zu Recht, nun auch die von Technik und Wirtschaft verursachten Kosten in den Blick und hinterfragen deren Dominanz, verordnen sich eine Online-Diät, blockieren den Verkehr, ernähren sich vegan. Sie erkennen intuitiv, dass sie weder als Konsument noch als User geboren wurden, sondern Bedürfnisse haben, die mit Produkten, Diensten oder Apps nicht zu befriedigen sind. Solche Skepsis ist einerseits ganz wunderbar, sie setzt jedoch andererseits Suchbewegungen in Gang, die oftmals seltsam widersprüchlich anmuten.
In Frankreich gingen die sogenannten Gelbwesten auf die Straße, weil die Regierung zur Finanzierung und Durchsetzung der Energiewende alle fossilen Kraftstoffe höher besteuern wollte; ja, im Verlauf der Proteste sind weitere, sehr berechtigte Forderungen, etwa hinsichtlich der Altersvorsorge, dazugekommen, aber der Ausgangspunkt waren die Spritpreise. Umweltschützer klagen gegen Windkraftbetreiber, weil die Rotoren eine Gefahr für Schwarzstörche oder Fledermäuse darstellten. Buchliebhaber und Leser kaufen ihre Bücher inzwischen mehrheitlich bei den großen Buch-Ketten oder gleich im Internet und beklagen den Niedergang des kleinen Sortimentsbuchhandels. Ich könnte die Aufzählung noch eine ganze Weile fortsetzen.
Solche internen und externen Widersprüche machen uns, unser Unbehagen an der Gegenwart manipulierbar. Das Problem besteht darin, dass jeder, der verändernd wirksam werden will, hierbei immer auch die eigenen Belange im Auge behalten, also bei sich selber ansetzen muss. Die meisten verbleiben dann aber auch genau dort, bei sich selbst. Auf eine saubere Umwelt als anzustrebenden Wert können sich viele heute vermutlich leicht einigen, aber die Zielerreichung, siehe das Windkraft-Beispiel, ist umstritten. Andere Werte, wie etwa Gerechtigkeit oder ein solidarisches Miteinander sind vielleicht abstrakt einigungsfähig, konkret aber schwer zu fassen, weil sie sich in der Realität auf vielfache Weise und zum Teil widersprüchlich überlagern und weil sie beispielsweise im »Marktgeschehen« praktisch nicht vorkommen. In Produktion und Konsumtion herrscht Wettbewerb, jeder ist des Anderen Konkurrent, von solidarischem Miteinander keine Spur. Immerhin erzeugt solche Nichtbeachtung aber noch Phantomschmerzen, zu deren Linderung nun jedoch allzu oft die falschen Therapien angeboten und leider auch angenommen werden.
Solcher Phantomschmerz äußert sich als diffuses Unbehagen an dem, was ist und wie es ist. Es ist ein Mangelgefühl, das psychische und psychosomatische Leiden – Stress, Depressionen, Burn-out – zu einem Massenphänomen gemacht hat. Was im vorvergangenen Jahrhundert, in den autoritären Zeiten strenger Ge- und Verbote, die Neurosen waren, das sind in unserer Gegenwart des »anything goes« die mehr oder minder schweren Depressionen, das »erschöpfte Selbst«, das von keinen strengen Konventionen mehr seinen Platz zugewiesen bekommt. Wir sind heute gezwungen, uns permanent selbst zu »erfinden«. Für Menschen, die Orientierung und Halt, mindestens Leitplanken suchen, ist die liberale Gesellschaft eine Zumutung. Ein bisschen Unfreiheit könnte da schon für Entlastung sorgen – und dieser zumeist uneingestandene Wunsch lässt dann gern den Ruf nach einer starken »Führung« ertönen. Aber worin dieser Kinderwunsch mündet, sollten wir wissen.
Ja, schön wärs, wenn’s schöner wär. Das passiert aber nicht von selbst. Und hierbei stets auf fremde Hilfe zu hoffen – Greta oder die Grünen oder die Linken werden’s schon richten –, ist kindisch. Um etwas »Schöneres«, vielleicht sogar einen »Systemwechsel« zu erreichen, ist wünschen nicht genug. Ohne eigene Veränderungen, ohne zu handeln, wird das nix.