Bald wird nicht nur die Raumtemperatur sinken; das soziale und politische Klima droht eisig zu werden. Im Land herrscht ein Hurra-Militarismus (Helmut Scheben), und der Feind steht nicht nur im Osten, sondern auch in der Heimat. Das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) warnt laut dpa vor verstärkter Propaganda. Russland nutze »Fragen der Energieversorgung Europas als hybriden Hebel«, schüre Angst vor drohender Energie- und Lebensmittelknappheit. Und: »Russische Propaganda wird im extremistischen Milieu voraussichtlich noch zunehmen und Verschwörungsnarrative befeuern mit dem Ziel, einen Keil in unsere Gesellschaft zu treiben.« Die bedrohliche wirtschaftliche Lage berge, so das BfV, ein hohes Instrumentalisierungspotential für Rechts- und Linksextremisten, aber auch für »Verfassungsfeinde, die keiner der beiden Kategorien zuzurechnen sind«.
Deutschland ist Kriegspartei, und der Staat rüstet nicht nur die Bundeswehr und die Ukraine massiv auf; er rüstet sich auch im Inneren gegen alle, die gegen diese Politik der Militarisierung und systematischen Verarmung protestieren. Für sie hält das BfV den Stempel »verfassungsrelevante Delegitimierung des Staates« bereit. Nicht Armut und Ungleichheit zerstören den gesellschaftlichen Zusammenhalt, nicht Aufrüstung und weltweite Expansion des Militärs schaffen Misstrauen, Feindschaft und Konflikte, sondern die Verräter im Land. Ihnen gilt die Feinderklärung. Bundesinnenministerin Faeser: »Demokratiefeinde warten nur darauf, Krisen zu missbrauchen, um Untergangsfantasien, Angst und Verunsicherung zu verbreiten.«
Der von Russland finanzierte Sender RT DE wurde verboten, die linke Tageszeitung junge Welt steht schon lange unter Beobachtung des Bundesamtes für Verfassungsschutz, und die kritische Website NachDenkSeiten (NDS) gerät unter Beschuss: Das Bundesfamilienministerium und die Bundeszentrale für politische Bildung finanzierten eine »Gegneranalyse« des »Zentrums liberale Moderne«, das damit »systemoppositionelle« Medien analysieren und überwachen will, zu denen die NDS gezählt werden (vgl. NDS, 1.7.22). Ihr Redakteur Florian Warweg wurde nicht zur Bundespressekonferenz zugelassen. Soll hier eine kritische Website in Misskredit und womöglich zum Schweigen gebracht werden, die täglich mit zahlreichen Links zu verschiedenen Medien einen umfassenden Blick auf aktuelle Themen ermöglicht?
Das Bundeswirtschaftsministerium diffamiert Kritiker der Politik des Ministers Habeck als Verschwörungstheoretiker und als »Putin-Trolle«. Sie werden belehrt: »Fakenews sind Teil des russischen Krieges« (NDS, 17.8.22). Medien nutzen Methoden des »Wording« und »Framing« (»Die Ukraine verteidigt unsere Freiheit und Demokratie«) in ständiger Wiederholung, und ihrer manipulativen Einseitigkeit entkommt nur, wer »alternative« Medien heranzieht. Der Manipulation dient auch das Weglassen von Ereignissen, die die hegemoniale Deutung stören könnten: Das »Verschweigen essentieller Fakten« (Christian Müller auf globalbridge.ch) dient dem Ziel, unsere Realitätswahrnehmung zu verengen. Kein Wunder, dass die NachDenkSeiten unter Beschuss geraten, veröffentlichen sie doch kontinuierlich Beiträge wie »Nichtberichterstattung in Deutschland« oder »Die Ukraine und die Realität« (beide am 29.8.22). Über den Einfluss westlicher Politiker auf den Putsch 2014, die Rolle von Oligarchen und internationalen Konzernen, die verzweifelte, desolate Lage der russischen Bevölkerungsteile, der Wirtschaft und der Demokratie in der Ukraine – nicht erst seit dem Krieg – erfahren die Menschen hierzulande fast nur aus alternativen Medien. Auch das systematische Verschweigen ist Propaganda.
Propaganda will mitnichten informieren, aufklären und ein abwägendes Urteil erleichtern, vielmehr Stimmung erzeugen, Wahrnehmung und Gefühle manipulieren. Nicht nur Hochrüstung (Baerbock: Die Ukraine braucht »auch im nächsten Sommer noch neue schwere Waffen von ihren Freunden«), auch die Ästhetisierung des Militarismus soll gegen die »Kriegsmüdigkeit« (Baerbock) helfen, etwa in der Fotostrecke der bestbezahlten US-Fotografin Annie Leibovitz über den Kriegsherrn Selenskyj für die Modezeitschrift Vogue: Durch die Ästhetisierung der Propaganda zur Anästhätisierung der Massen (Siegfried Kracauer), wie Susann Witt-Stahl in junge Welt diese »Manipulation der Sinne und der Emotionen« beschreibt (27.8.22).
Staatliche Propaganda auch dies: Generalbundesanwalt Peter Frank hat ein Strukturermittlungsverfahren gegen russische Militärs angekündigt, die Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen haben; ermittelt werde auch gegen die politischen Verantwortlichen. Auf die Anfrage des Autors an die Bundesanwaltschaft (BA), wie sie bei solchen Verbrechen seitens Nato-Staaten tätig wurde, (vgl. der Freitag, 19.7.22), gab sich die Behörde verschlossen und verwies auf andere Ermittlungen. Auf Nachfrage (»Bei welchen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die den USA, den Nato-Staaten oder Israel anzulasten sind, hat die BA Ermittlungen durchgeführt?«), hieß es: »Auch auf Ihre erneute Anfrage kann ich Ihnen leider keine Auskünfte erteilen.« So lässt sich die BA für interessengeleitete geopolitische Strategien oder gar kriegerische Auseinandersetzungen instrumentalisieren und verliert ihre Glaubwürdigkeit. Den Verweis auf den Journalisten Julian Assange, der wegen Aufdeckung von Kriegsverbrechen in westlichen Demokratien verfolgt, gefangen gehalten und seines Lebens bedroht wird, überging die BA ganz.
Prinzipien der Kriegspropaganda, die der Pazifist Arthur Ponsonby bereits 1928 beschrieben hatte, lassen sich derzeit täglich beobachten: Schuld am Krieg hat nur der Feind, wir sind die Guten und haben hehre Ziele im Gegensatz zum teuflischen Feind. Politiker und Medien haben es geschafft, der Bevölkerung den militärischen Sieg und den wirtschaftlichen Ruin Russlands als Ziel nahezubringen und nicht einen Waffenstillstand und Verhandlungen über gegenseitige Sicherheitsgarantien. Diese Bellizisten verengen die Realität und blenden Vorgeschichte, Hintergründe und die Interessen anderer Beteiligter vollständig aus. Die Geschichte des Krieges beginnt für sie am 24. Februar, und der einzig relevante Tatbestand ist der russische Angriff. Auf sie trifft die Feststellung von Anne Morelli zu (»Die Prinzipien der Kriegspropaganda«, 2001): »Die Schaffung eines geradezu hypnotischen Zustandes, in dem sich die gesamte Bevölkerung im tugendhaften Lager des gekränkten Gutmenschen wähnt, entspricht wahrscheinlich einem pathologischen Bedürfnis.«
Hat man in Deutschland bis vor 20 Jahren noch eine zurückhaltende Einstellung gegenüber militärischer Expansion und Konfliktlösung beobachten können, dominiert inzwischen eine Einschränkung des Denk- und Sehfeldes. Wilhelm Kempf (»Kriegspropaganda versus Friedens-Journalismus«) beschrieb lange vor dem Ukrainekrieg diese Verengung auf militaristische Logik, die zwangsläufig zu einer Eskalation führt. Die Menschen empören sich in einer solchen Zeit nicht über den Krieg, sondern über den Feind; sie nehmen nicht mehr das Leid der Opfer und den Nutzen einer friedlichen Lösung wahr. Es findet eine psychische Destabilisierung der Öffentlichkeit statt, die die Urteilsfähigkeit ausschaltet. Davon ist gegenwärtig die öffentliche Meinungsbildung geprägt, die durch Dämonisierung, Aufrüstung und Waffenlieferungen den Feind zu vernichten trachtet (und der neue ist schon im Visier) – und dabei nicht die hohen wirtschaftlichen und menschlichen Kosten wahrzunehmen bereit ist. Und übrigens auch nicht die Profiteure dieses wie aller Kriege, die kein Interesse an friedlichen Konfliktlösungen haben.
Angst breitet sich aus, denn diese vorherrschende militaristische Logik zerstört das friedliche Zusammenleben, die Demokratie und die soziale Sicherheit. Gegenwärtig werden zwar alle gesellschaftlichen und globalen Probleme und Kata-strophen, die wie immer primär die Benachteiligten treffen, mit dem Ukrainekrieg entschuldigt, obwohl der nur zuspitzt, was schon lange gärt und jedes Vertrauen in eine gerechte Politik und eine gute Zukunft zerstört. Realistische Konzepte verschiedener Institutionen zu friedlichen Lösungen wurden und werden nicht einmal veröffentlicht, geschweige denn politisch diskutiert.
Ohne die »Infragestellung des Krieges und der militärischen Logik, die Respektierung der Rechte des Gegners und eine unverzerrte Darstellung seiner Intention« (Kempf) kann es keinen Frieden geben. Auch der Gegner fühlt sich bedroht, betont Kempf; das suchte Putin dem Westen seit 20 Jahren verständlich zu machen, zuletzt noch in einem Beitrag für die Zeit zum 80. Jahrestag des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion (vgl. Leo Ensel, NachDenkSeiten, 29.6.21) – ein Vernichtungskrieg, dem 27 Millionen Menschen zum Opfer fielen. Welcher Preis ist in der Ukraine für einen militärischen Sieg oder den wirtschaftlichen Ruin Russlands (Baerbock) zu zahlen? Welche friedlichen Alternativen und Perspektiven der Versöhnung müssen wir gegen die vorherrschende Kriegspropaganda fordern? Die Bemerkung des Friedensnobelpreisträgers Carl von Ossietzky gilt nach wie vor: »Der Krieg ist ein besseres Geschäft als der Friede. Ich habe noch niemanden gekannt, der sich zur Stillung seiner Geldgier auf Erhaltung und Förderung des Friedens geworfen hätte.« Fordern wir also: Waffenstillstand! Verhandlungen! Abrüstung und gegenseitige Sicherheitsgarantien!