Dieser Roman ist einer der seltsamsten, die mir in letzter Zeit untergekommen sind. Aber auch einer, dessen Lektüre die dafür investierte Zeit nicht nur lohnt, sondern belohnt. Gewinn ist zu ziehen aus dem seltsamen, aber immer mehr Sog entfaltenden Sprachgebrauch. Aus dem Eigensinn, der hier zu spüren ist, und der – in des Wortes schönster Bedeutung – produktiv ist und macht, sowie aus den bizarren und gruseligen Ideen der proletarischen Prinzessinnen. Das sind die Ich-Erzählerin und ihre Freundin Constanze, die aus jedem Wörtlein Seminarthemen entwickelt, die so grotesk sind, dass sie fast der Wirklichkeit entstammen könnten. Da ist zum Beispiel etwas für die Katz, die Schulbildung etwa. Das Seminar setzt 15 Schwerpunkte und beginnt so: »Wirtschaftssysteme der Gegenwart und ihr Verhältnis zur Katz«. Es endet mit einem »Ausblick auf eine konstruktive Katz«. Das Buch enthält noch mehr solch spitzfindiger und hochintelligenter Verspottungen unserer Vortrags-, Seminar- und Weiterbildungskultur, auch des pseudointellektuellen Geschwätzes vieler Zeitgenossen. Sie sind köstlich zu lesen.
Die beiden Hoheiten legen Wert darauf, Prinzessinnen zu sein, »wie sie nicht in jedem Buche stehen«. Aber in diesem stehen sie, und zwar stark und fest, sie haben die Gesprächshoheit. Und das, obwohl plötzlich im Wochenlauf auf den Montag wieder ein Montag folgt. Der vielleicht erschreckende Umstand – es gibt genug Menschen, die diesen schönen Tag des Beginns nicht mögen – scheint aber die Aktivitäten, den Tatendrang und die Reiselust der beiden Prinzessinnen anzukurbeln. (Wenn es ums Logieren in Hotels geht, sind sie auch gar nicht so proletarisch, wie sie behaupten). Der Leser stellt dabei erschrocken fest, wie viele Demonstranten, Spaziergänger, Polizisten diesen Tag für sich reklamiert haben.
Ein unbedingter Vorzug dieses Romans, und er bezeugt die hohe Schreibkunst seiner Verfasserin, ist es, dass die Welt, die sie schildert, obzwar grotesk verzerrt, klar als unsere Gegenwart zu erkennen ist. Da können in Leipzig, wo die Prinzessinnen wohnen, auf einem Rummelplatz Riesen ein Karussell betreiben, da mischt ein »Unsichtbares Kind« sich kommentierend ein und wird später gar zur Welt gebracht. Sichtbare Kinder hat die Erzählerin auch, die sie wecken und zur Schule treiben muss.
Der seltsamste Hausgenosse der Prinzessinnen ist der Tod. Dass er mit ihnen lebt, ist ihnen ganz selbstverständlich. Der Tod ist zuerst ein wenig schwächlich, kränklich fast, und er hat nicht viel zu melden, gelangt aber wieder zu Kräften, etwa in der Mitte des Romans wird mitgeteilt: »Der Tod kommt mit Aperol Spritz von der Bar. Wir stoßen an. Er sagt, er habe sich damit abgefunden, möglicherweise unglücklich verliebt zu sein. Fernbeziehung, sagt der Tod.« Mit zunehmenden Kräften kann der Tod dann immer nachdrücklicher agieren. »Mitten wir im Leben sind mit dem Tod umfangen« – das alte lutherische Kirchenlied klingt beim Lesen in einem auf. Wir wissen, dass der Tod ein ständiger Gast ist, bei Heike Geißler verliert er als Mitbewohner seinen Schrecken.
Die meisterliche Doppeldeutigkeit, die Doppelbödigkeit des Textes erweist sich auch an den geistigen Bezügen und Anregungen, die man unbedingt in den »Quellen« am Ende des Buches nachlesen muss. Dass ein Buch sich aus Büchern speist, das gereicht ihm nicht zum Nachteil. Und die literarische Erregung über Vergangenheit und Gegenwart hat man auch schon gelesen. Aber hier ist etwas neu, das nicht nur mit der konsequent weiblichen Sicht, die gewiss hellsichtig macht, zu tun hat. Vielleicht, weil der Befund nach dem Lesen nicht nur lautet, dass die Umstände und Zustände nun einmal so sind, wie sie sind – sondern dass man den Spaß an Fantasie und Widerspruch spürt, dass sie Auswege eröffnen, ja, einem bewusst machen, was man schnell vergessen kann: »Wir sind da und möglich.« Einen so tröstlichen Kommentar auf unsere Gegenwart liest man selten. Vor vielen, vielen Jahren empfahl ein Schulfunktionär uns jungen Lehrern, stets das Kommunistische Manifest in der Tasche zu haben, damit wir für den Alltag immer gerüstet seien. Er wurde angegrinst. Mit dem »Manifest« Heike Geißlers in der Tasche ließe sich, glaube ich, die Gegenwart ganz gut begreifen und eine Weile aushalten. Und man hätte einen wirklichen Roman dabei: Ganz in der Realität verankert und doch ein Fantasieprodukt.
Heike Geißler: Die Woche. Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin 2022, 316 S., 24 €.