Nun ist es in der Welt: das Programm ohne Partei! Angesehene Wissenschafts- und Politikexperten haben es erstellt, ihr Grundgedanke war: Die Parteien bieten zu wenig Inhaltliches zur Bundestagswahl, meist nur Oberflächliches, also stellen wir sinnvolle Ziele auf. Da kommt als erster Gedanke: Endlich mal verantwortungsbewusste Experten, die sich trauen, die Finger auf die Wunden zu legen. Und sie legen sie auf wirklich schlimme Wunden – dies ist den Makroskop-Machern und den Trägern der »Freiburger Diskurse« hoch anzurechnen (ersteres ein Wirtschaftsmagazin mit postkeynesianischen Beiträgen – gemäß dem Prinzip: Die Politik soll den Markt steuern –; letzteres ein Podium für produktiven Dialog zu Zukunftsfragen).
Dann ging‘s für mich ans intensivere Lesen – und schon kamen die ersten Stolpersteine: Von der Staatsverschuldung ging es über Kommunal-Fragen zu »Markt durch Löhne«, weiter über die Rentenentwicklung zu den öffentlichen Aufgaben – alles irgendwie ein bisschen sprunghaft. Dabei fielen drei Ziele auf, die sich auf mangelnde öffentliche Gelder reduzieren lassen: Ziel 2 (Kernsatz »Für leistungsfähige Kommunen«); Ziel 3 (Kernsatz »Für lebenswerte Wohn-Räume in ganz Deutschland«); Ziel 6 (Kernsatz »Für gute öffentliche Güter und adäquat bezahltes öffentliches Personal«). Diesen Forderungen scheint eines gemeinsam: Es gibt offenbar zu wenig Mittel für die öffentlichen Aufgaben. Schaut man einige Jahre zurück: Die Abwälzung staatlicher Leistungen des Bundes (auch mit dem Flüchtlingsstrom ab 2015) auf Länder und Kommunen erfolgte ja nicht deshalb, weil der Bundeshaushalt zu üppig war, sondern aufgrund leerer Kassen, da vorher z. B. die Privatbanken »alternativlos« gestützt werden mussten. Bei ernsthaftem Nachprüfen sollten diese Zusammenhänge berücksichtigt werden.
Und steht es bei der öffentlichen Daseinsvorsorge nicht ähnlich? Hier sind zwei Tendenzen erkennbar: Zum einen konnte der Lobbyismus weismachen, dass nur die Privatisierung (z. B. bei Krankenhäusern und beim Straßenwesen) zu effizienten Leistungen führt. Kann sein – aber nebenbei (oder vor allem?) führte dies zu mehr Profit! Und parallel dazu fehlte auch der politische Willen, dafür Geld auszugeben. Für andere Vorhaben war dies allemal möglich – vom Afghanistan-Krieg bis zu Subventionen für Militärexporte. Hier sehe ich eine eindeutige Linie:
Statt für den eigenen Staatshaushalt klug zu wirtschaften, wurde das Geld für politische Ziele und für die »Bedürfnisse« des Großkapitals ausgegeben – bis hin zu Milliarden-Krediten im dreistelligen Bereich. Wäre dies nicht so gelaufen, brauchte man über die obigen Punkte nicht zu reden.
Einen weiteren Komplex des »Programms ohne Partei« stellen die Ziele 4 sowie 7 bis 10 dar. Deren Kernsätze lauten:
- »Für eine stabile Marktwirtschaft dank guter Löhne.«;
- »Für eine ausgeglichene Leistungsbilanz.«
- »Für eine Wirtschaft des Re-Usings, des Recyclings und der Reparatur.«
- »Für mehr Tempo bei der Agrarwende (…), Bekämpfung von Artenschwund, Klimawandel (…) Übergewicht.«
- »Für einen stabilen Finanzsektor im Dienste der Realwirtschaft.«
Bei diesen postulierten Zielen zeigen sich viele gemeinsame Schnittpunkte. Hinsichtlich der Chancen für ihre Erreichung seien beispielhaft zwei Aspekte betrachtet: »Nur Privatwirtschaftliches ist effizient.« Dieses Mantra taucht allenthalben auf – mal als »Selbstverpflichtung der Unternehmen« bei notwendigen Änderungen (z. B. in der Agrarindustrie), mal direkt als die Lösung für jedwedes gesellschaftliche Problem. Für Gegenbeweise gäbe es genug Material – siehe Privat-Fernbussysteme (heute oft mit Fahrzeugen aus Osteuropa), siehe private Kliniken (Personalausdünnung und Arbeitsstress wurden während der Pandemie sichtbar) oder den Pflegebereich. Letztendlich läuft diese »Effizienz«-Diskussion für den Privatsektor bisher immer auf folgendes Szenarium hinaus: Neue Geschäftsfelder erschließen (oder erobern?), Kostensenkungen verordnen (meist durch Personalabbau), Beschäftigte physisch und psychisch ausbeuten, Profitrate erhöhen.
Denn auf nichts anderes kommt es letztlich an, wenn die Privatwirtschaft dominiert: mit dem eingesetzten Geld noch mehr Geld zu erwirtschaften. Auf welchem Weg das geschehen kann, ist prinzipiell egal; ob durch »Steuer-Optimierungen«, Waren mit »Sollbruchstellen« (sodass schnell etwas Neues beschafft werden muss) oder auch das Wecken neuer Bedürfnisse. Möglichst viel Gewinn muss fließen, mit maximaler Profitrate. Recycling, Reparatur, Ersatzteile? Nur, wenn es Gewinn bringt!
Zum zweiten Aspekt: Betrachtet man die letzten über 20 Jahre deutscher Regierungstätigkeit, zeigen sich (sowohl unter SPD- als auch unter CDU-Ägide) nur wenige Beispiele, wo der Sozialstaat verbessert worden ist, jedoch viele einschneidende Veränderungen zugunsten des »freien Marktes« – vom Senken der Steuerlast für Unternehmen, Einführung der Agenda 2010 (Stichwort »Ich-AG’s«) bis zur politischen Unterstützung für die SUV’s. Dies geschah, obwohl seit Jahren stets soziale Gerechtigkeit eingefordert wird und als Versprechen auf vielen Wahlplakaten prangert. Dies zeigt, dass im hiesigen Parlamentarismus der Markt bzw. das Kapital die Oberhand hatte und hat. Ein Weg, wie dies künftig geändert werden sollte, zeigt das Programm ohne Partei nicht auf.
Würde man die Beispiele weiterführen, kämen Themen wie das TTIP-Abkommen und die Macht der Investmentfirmen zur Sprache. In einem Fall ging es u. a. darum, »Investitionshemmnisse« durch private Schiedsgerichte entscheiden zu lassen (also die Aushebelung der staatlichen Gewalt) – und dafür wollten die betroffenen Länder sogar ihre Zustimmung geben. Dies ist vorerst vom Tisch. Realität ist jedoch die Macht der Investmentfirmen, deren unfassbar großes Spekulationsvolumen die globalen Banken- und Immobilienkrisen mitverursacht hat. Man sieht: Um sich mit Zukunftsfragen zu beschäftigen, sollte man stets auch die Vergangenheit im Auge behalten.
Wurden derartige Gefährdungen nach diesen Krisen etwa durch energische staatliche Maßnahmen ausgeschlossen? Nein, allenfalls durch kleinteilige Einschränkungen gemildert (siehe die Diskussion über die Tobin-Steuer). Auch an diesen Beispielen zeigt sich: Die staatliche Macht wird im »westlichen« Wirtschaftsraum vom Gewinnstreben des großen Kapitals »links und rechts überholt« – gibt es ein paar Einschränkungen, werden andere Wege gesucht, um noch mehr zu scheffeln. Wie gesagt: Das Kapital ist originär nicht an langfristigen sozialen und volkswirtschaftlichen Zielen interessiert, sondern nur am betriebswirtschaftlichen Vermehren des vorhandenen Geldes. Diesem Ziel ordnen die Kapitalbesitzer alles unter – der private Bäckermeister ebenso wie die Multi-Milliardäre. Letztere haben natürlich viel mehr Macht und Tricks, um dies durchzusetzen, und sie haben ihre Fühler oft »nah« an der jeweiligen Regierung. Mehr noch: Die Verschuldung der Regierung wird auch von privaten Banken getragen; eine Abhängigkeit ist da unübersehbar.
Hier wird der Widerspruch zwischen dem Wohl der Allgemeinheit und den Unternehmens-Interessen deutlich: Die menschliche Gesellschaft benötigt sozialen Ausgleich, ausreichend Daseinsfürsorge – bis hin zum Umwelt- und Klimaschutz nicht nur für einige Generationen, sondern praktisch für die Ewigkeit (oder soll es in 100 Jahren keine Kunststoffe mehr geben?) –, das Kapital denkt nur an die Rendite. Damit stehen sie sich als Interessensgruppen gegenüber: BWL-Denke in Kurzzeiträumen (ggf. nur je Quartal) contra VWL-Denke in großen Zeiträumen.
Leider hat bisher immer das BWL-Denken gewonnen. Deshalb scheint es mir angebracht, nicht nur einige Ziele zu proklamieren, sondern auch die Schritte bis dorthin zu reflektieren. Die Heilung eines Patienten wird nicht durch Genesungswünsche möglich, sondern durch medizinische Behandlung.
In diesem Sinn vermute ich, dass das »Programm ohne Partei« durchaus mediale Resonanz erfährt, jedoch wenig bewegen wird – egal unter welcher Regierung. Ob es klug war, nur eine Woche vor der Bundestagswahl an das Gewissen der Bürger zu appellieren, weiß ich nicht. Übrigens: Von Umwelt- und Klimaschutz habe ich wenig gelesen.