Bekanntlich waren die starken Beeinträchtigungen der seelischen Gesundheit und der sozialen Entwicklung sehr vieler junger Menschen im Laufe des letzten Jahres nicht (zwangsläufige) Folge von Corona, sondern (auch) dem spezifischen nationalen oder regionalen politischen Krisenmanagement und den jeweiligen sozioökonomischen Kontexten geschuldet. Obgleich diverse Auswirkungen global zu beobachten sind, gab es doch gewisse nationale Unterschiede, die sich auch aus verschiedenen Priorisierungen herleiten lassen.
In den Worten des Berichts der interministeriellen Arbeitsgruppe aus Bundesgesundheits- und -familienministerium (IMA) vom 15. September 2021 stellen sich die Folgen der Pandemie und der Maßnahmen folgendermaßen dar (S. 20 f.): »Die Pandemie hat bestehende Ungleichheiten hinsichtlich der Chancen auf ein gesundes Aufwachsen verschärft. Diejenigen Kinder und Jugendlichen, die bereits vor der Pandemie erhöhte Gesundheits- und Entwicklungsrisiken getragen haben, waren und sind auch während der Pandemie besonderen Belastungen ausgesetzt. Neben Kindern und Jugendlichen aus Familien mit niedrigem sozioökonomischem Status gehören dazu insbesondere auch Kinder und Jugendliche mit Behinderungen und schweren chronischen Erkrankungen (…) sowie Kinder und Jugendliche, deren Eltern an schweren psychischen Erkrankungen leiden.« Für diese vulnerablen Gruppen habe die Aufrechterhaltung des Regelbetriebs von Bildungs- und Betreuungseinrichtungen eine besondere Bedeutung und Dringlichkeit, so der Bericht. »Sie sind für ihre gesunde Entwicklung in erhöhtem Maße auf verlässliche außerfamiliäre Strukturen angewiesen und können die Belastungen durch den Wegfall dieser Strukturen häufig schlechter kompensieren. Zudem hat sich gezeigt, dass Notbetreuungsangebote von vulnerablen Gruppen, auch aus Angst vor Stigmatisierung, wenig genutzt wurden.«
Internationale Vergleichsanalysen stellten schon im Jahre 2020 relativ frühzeitig fest, dass in der deutschen Lockdown-Politik seit März 2020 anscheinend besonders hart gegenüber Kindern und Jugendlichen, Familien und Bildungseinrichtungen vorgegangen wurde. Doch diese Hypothese ließ sich noch nicht evidenzbasiert bestätigen. Seit Juli/August 2021 lassen die Indizien inzwischen eine Bestätigung dieser Eindrücke zu. Denn ausgerechnet die Kommissarin für Menschenrechte des Europarats, Dunja Mijatović, hat in einem Brief vom 13. Juli 2021 an die deutsche Justiz- und Familienministerin Christine Lambrecht die Bundesrepublik Deutschland bei der Umsetzung der Kinderrechte im Vergleich zu den anderen 46 Europarats-Mitgliedsstaaten besonders gerügt. Und sie tat dies nicht nur wegen der gescheiterten Aufnahme der Kinderrechte ins Grundgesetz, sondern explizit auch wegen der besonderen Schärfe der Corona-Maßnahmen gegenüber Kindern und Bildungseinrichtungen seit März 2020.
Erstaunlicherweise hatte dann die Bundesjustiz- und Familienministerin Lambrecht in ihrer Antwort vom 24. August 2021 auf den Brief der Europarats-Kommissarin dieser rechtgegeben und zugegeben, dass dieser Eindruck stimme. Selbst der interministerielle Report des Bundesgesundheitsministeriums und des Bundesfamilienministeriums vom 15. September 2021 gesteht eine zumindest bislang nicht ausreichende Berücksichtigung des Kindeswohlvorrangs und der Kinderrechte auf Schutz, Förderung und Beteiligung mehr als indirekt ein, wenn er schreibt: »Zu beachten ist, dass Maßnahmen, die zur Eindämmung der Pandemie erlassen werden, nicht nur mit den Grundrechten, sondern auch mit der VN-Kinderrechtskonvention (VN-KRK) in Einklang stehen müssen, zu der u. a. das Recht auf Bildung (Art. 28 VN-KRK), das Recht auf Freizeit (Art. 31 VN-KRK) und das Recht auf Gesundheit (Art. 24 VN-KRK) zählen.« Diese Vorgaben seien ebenfalls zu berücksichtigen. Wenn solche völkerrechtlichen und rechtsstaatlichen Selbstverständlichkeiten von einem interministeriellen Bericht (S. 2) für das Bundeskabinett am 15. September 2021 explizit eingefordert werden (müssen), so ist das schon einigermaßen bezeichnend für deren bisherige Berücksichtigung.
Der dem Neoliberalismus gemäße marktkonforme, entpolitisierende, individualisierende Ansatz der Wahrnehmung und Verarbeitung gesellschaftlicher Probleme, lässt sich auch z.B. an Aussagen der Bundeskanzlerin Angela Merkel veranschaulichen. So berichtete die Hannoversche Neue Presse vom 27. Mai 2021: »Sie lasse sich nicht anhängen, dass sie Kinder quäle, soll eine gereizte Angela Merkel in einer der endlosen Länderchefrunden gemurrt haben. Und scherzte in einem Gespräch mit 14 Elternteilen: ›Eigentlich müsste ich zu jedem von Ihnen nach Hause kommen und mich drei Stunden um Ihre Kinder kümmern, damit Sie auch mal Sport machen können oder Zeit für etwas anderes haben‹«. In ihrem Missverständnis der Lage von vielen Millionen Kindern und Familien wird ihr gar nicht klar, dass es weder darum geht, ihr persönliche Kinderquäl-Gelüste zu unterstellen, noch sie als Haushaltshilfe oder Babysitterin einzustellen. Vielmehr geht es doch um die allgemeine politische Priorisierung und bundesgesetzlich vorgeschriebene Kindeswohlvorrang-Prüfung bei allen politischen Entscheidungen; beides ist (mindestens) seit Mitte März 2020 ziemlich in den Hintergrund getreten. Da reicht es dann auch nicht, nach über einem Jahr in Online-Konferenzen Interesse an Kindern, Jugendlichen, jungen Erwachsenen, Eltern, Armutsbetroffenen usw. zu bekunden und dann bei den notwendigen Maßnahmen höchstens zu kleckern, statt zu klotzen (man vergleiche nur das Verhältnis zwischen den seit 2020 enorm gestiegenen Lebenshaltungskosten besonders für Einkommensschwache und dagegen die lächerliche Hartz-IV-Erhöhung um 3 Euro im Juni 2021). Auch hier gilt die alte Fußball-Weisheit: Entscheidend ist auf dem Platz.
Wenn im Jahre 2020 staatlich geförderte Großunternehmen zehntausende von Beschäftigten in von der Solidargemeinschaft mitfinanzierte Kurzarbeit schickten, aber zugleich Milliarden an Dividenden an ihre Großaktionäre de facto von den Steuer- bzw. Beitragszahler(inne)n finanzieren ließen, deutet sich ebenfalls ein neoliberal strukturiertes Muster der Privatisierung von Gewinnen und Sozialisierung von Verlusten an. In einem Report namens »Facing Finance« heißt es: »Insgesamt nahmen 12 der 30 DAX-Konzerne Kurzarbeit in Anspruch und 11 davon zahlen weiterhin Dividenden. Die einzige Ausnahme: Adidas. Aus unserer Perspektive bedeutet das im Klartext: ein Großteil dieses Geldes ging über den Umweg der Großkonzerne vom deutschen Staat in die Taschen der Aktionäre«.
Wenn dann bis zum 22. März 2021 zwar alle Bildungseinrichtungen zum mindestens zweimaligen Testen pro Woche gebracht werden können, aber bis dahin weder eine ebensolche Testpflicht für die Unternehmen in der Privatwirtschaft noch eine Verpflichtung zum möglichen Homeoffice besteht, lässt sich die gleiche Tendenz erkennen. Allzu oft hieß es immer noch in Deutschlands Betrieben: Die Chefetage geht ins Homeoffice, und das (Callcenter-)Proletariat bleibt schön im Aerosole-Paradies des Großraumbüros oder muss in der Fabrikhalle um jede Maske und jedes Desinfektionsmittel kämpfen. Wo Tests und selbst leicht mögliches Homeoffice nur per »Selbstverpflichtung« erbettelt werden, zeigt auch das eine klare neoliberale Orientierung, wonach der Eingriff in bürgerlich-kapitalistische Eigentumsverfügung – auch in Zeiten einer Pandemie – ein Tabu darstellt.
Die Regierenden sollten derweil zumindest Wirkungen, Nebenwirkungen und Kollateralschäden ihrer Maßnahmen in einem evidenzbasierten Prüf- und Abwägeverfahren ins Verhältnis setzen. Mit großen Bedenken und mit Kritik an den Regierungsmaßnahmen hieß es etwa in einem Kommentar von ZEIT.de am 5. Januar 2021: »Dass Unternehmen, egal welcher Art, ihre Angestellten noch immer in Großraumbüros oder gar in Werkshallen zwingen können, während Kitas und Schulen aus Rücksicht auf das Virus geschlossen bleiben, ist ein Skandal. Dass er übersehen wird, zeigt eindrücklich, was in Deutschland im Ausnahmezustand zur Disposition steht und was eben nicht.«
Kein einziger Kommentar in den großen meinungsbildenden Zeitungen und Sendern hat sich nach den Beschlüssen der sogenannten Ministerpräsidentenkonferenzen mit der Kanzlerin jedoch hinsichtlich der Corona-Maßnahmen der Regierung mit Folgendem kritisch auseinandergesetzt: In Deutschland wurden – mitten in der Pandemie! – weiterhin Krankenhäuser geschlossen (über 20 im Jahre 2020), Fachkräftemangel wird seit Jahren hingenommen und die dafür verantwortlichen Politiker maßregelten nun die Bevölkerung. Volle Schulbusse, nicht hygienegerechte Bildungseinrichtungen und die dafür seit vielen Jahren verantwortlichen Politiker bestraften nun die Schüler, Kita-Kinder, Erzieherinnen, Lehrerinnen und Eltern dafür.
»Darf die Bundesrepublik sich – quasi mit Ansage – leisten, Kinder fortzuwerfen?« Diese provokante rhetorische Frage stammt von der Publizistin Franziska Augstein (Spiegel.de, 9. Januar 2021). Sie schreibt: »Wenn Kinder aus unterprivilegierten Verhältnissen nicht zur Schule gehen dürfen (…), dann können sie nicht lernen, dann können sie keinen ordentlichen Schulabschluss machen. Und dann werden viele von ihnen in einigen Jahren in den Statistiken verbucht werden als das, was Rainer Maria Rilke ›Fortgeworfene‹ genannt hat. Der Dichter Rilke war kein Sozialreformer – es kommt freilich vor, und das ist eigentlich ihre Aufgabe, dass Dichter das treffende Wort finden«.
Die Hauptkritik an der Bundesregierung aus kindheitswissenschaftlicher Sicht sollte indes vor allem auf die sog. Verobjektivierung der Kinder zielen, welche subjektive Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen – auch jenseits von Kita und Schule – nicht erfragt und somit unberücksichtigt lässt, insbesondere diejenigen Interessen der sozial benachteiligten und vulnerablen Kinder. Ferner ist das Versäumnis einer bundesgesetzlich verpflichtenden vorrangigen Kindeswohlprüfung zu bemängeln, die Verweigerung von Kinderrechten wie Partizipation, Bildung und Gesundheit sowie die Verstärkung von Armutsrisiken ohne Kompensation. Insofern sind die meisten bisherigen Regierungsmaßnahmen auch als Ausdruck eines sozial gespaltenen und autoritärer werdenden Kapitalismus zu verstehen, obwohl die Pandemie recht deutlich gemacht hat, wer in der Gesellschaft lebenswichtige Tätigkeiten erfüllt. Zu diesen immer wieder verleugneten Unverzichtbaren gehören z. B. diejenigen, die die Regale füllen, die Bettlaken waschen, die Pflegebedürftige versorgen, die Erdbeeren pflücken, die in den Geschäften bedienen, die den Müll abholen, die Feuer löschen, die Busse und Bahnen fahren, die Flure putzen, die Kleinkinder versorgen usw. Es wäre sehr zu wünschen, dass sie sich in ihrer Gemeinsamkeit mit entsprechenden Interessen solidarisch organisieren und agieren – zum Nutzen aller.
Vom Autor erscheint in Kürze (2022) das Buch: Vergleichende Kinderpolitik-Wissenschaft. Kinderrechte und Kinderarmut in Corona-Zeiten. Beltz Juventa: Weinheim/Basel (i. E.).