Sogenannte moderne, sagen wir besser: zum Zeitpunkt ihres Entstehens avantgardistische Kunst hatte nicht erst nach 1945 sowohl im bürgerlichen Westen als auch im real sozialistischen Osten einen schweren Weg bis zur Akzeptanz. Heute ist sie allerorts zu finden. Sie ist unspektakulär geworden. Also warum noch alle fünf Jahre nach Kassel zur documenta fahren, die sie sich von Anfang an auf die Fahnen geschrieben hat und lange als ihre prominenteste internationale Ausstellungsplattform in Deutschland galt?
Im Deutschen Historischen Museum läuft nun eine Schau, die nur die documenta 1 bis 10 umfasst. 2022 wird es die 15. documenta geben. Platzgründe waren nicht an dieser Beschränkung schuld, obwohl die Exponate so eng gedrängt präsentiert werden, dass man leicht den Überblick verlieren kann. Man hätte getrost die Ausstellung »Die Liste der ›Gottbegnadeten‹. Künstler des Nationalsozialismus in der Bundesrepublik«, die im Nebeneinander durchaus Sinn macht und bis zum 5. Dezember zu sehen ist, auch anschließend zeigen können.
Grund für die Reduzierung auf die ersten zehn Ausgaben ist das Thema der Ausstellung: »documenta. Politik und Kunst«. Raphael Gross, Präsident der Stiftung Deutsches Historisches Museum, fasst die von der ersten documenta an bestehende Aufgabenstellung zusammen: »Kampf gegen die antimodernistischen NS-Kunstvorstellungen, gegen die DDR und den Ostblock sowie Hinwendung zum ‹Westen›, verstanden als der politisch-moralisch-ästhetische Kontrapunkt zum ‹Osten›«. Bezeichnend ist, dass zu den Geldgebern ab der documenta 2 das Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen und zeitweise der amerikanische Geheimdienst CIA gehörten.
Das sechsköpfige Kuratoren-Team hat viele, bisher noch unbeachtete Dokumente an die Öffentlichkeit gebracht, auf documentas gezeigte Kunstwerke sowie Fotos, Film- und Videomaterial einbezogen. Zu den verdienstvollsten Leistungen zählt die Aufdeckung der aktiven Nazivergangenheit des ersten documenta-Machers, Werner Haftmann, anhand von neu gefundenen Dokumenten und seines sich noch auf die erste documenta auswirkenden Antisemitismus. Dem setzt die jetzige Ausstellung eine ganze Reihe von Bildern des Malers Rudolf Levy (1875-1944) entgegen, eines jüdischen Opfers des NS-Terrors. Er war in der documenta 1 (d1) aus der Ausstellungsliste gestrichen worden. Zum anderen wird die erste und zugleich einmalige offizielle Beteiligung von Künstlern der DDR auf der documenta 6 im Jahre 1977 gewürdigt, mit der auf der documenta erstmals auch die Auseinandersetzung mit dem Terror des Nationalsozialismus thematisiert wurde, etwa durch Werner Tübkes »Lebenserinnerungen des Dr. jur. Schulze« von 1965.
Tatsächlich bestand in der Zeit von der d1 1955 an ihre wichtigste Aufgabe darin, mit ihrem Standort an der innerdeutschen Grenze als »Leistungsschau des Kalten Kriegs«, wie es in der Einleitung des umfangreichen Katalogs heißt, die Überlegenheit des Westens über den Osten zu demonstrieren. Das spielt auch nach 1989 noch eine Rolle bei der d10 1997, da auch im vereinten Deutschland weiterhin an der Auffassung festgehalten wurde, dass die bildende Kunst jenseits der Grenze »Nichtkunst« sei. Werner Haftmann persönlich war es, der verfügt hatte, dass für die »politisch reglementierte Kunstübung des ›sozialistischen Realismus‹ (…) kein Platz in Kassel« sei, was übrigens auch den Sozialistischen Realismus Italiens und Frankreichs betraf. Das war im vereinten Deutschland noch nicht aus den westdeutschen Köpfen raus, sondern hing so gut wie allen Künstlern an, welche nicht die DDR verlassen hatten. Der Prozess des Umdenkens ist auch heute noch nicht gewonnen, obwohl schon längst eine neue Generation von Künstlern am Werk ist.
Der DDR-Beteiligung unter dem documenta-Leiter Manfred Schneckenburger, die nach den deutsch-deutschen Verträgen durch das Kulturministerium der DDR abgesegnet und durch die Staatssicherheit der DDR überwacht worden war, ist in der Ausstellung ihrer Bedeutung gemäß zentral der größte Platz eingeräumt worden. Gezeigt werden 24 Werke, darunter von den sogenannten »Staatskünstlern« Willi Sitte, Bernhard Heisig, Wolfgang Mattheuer, aber auch von Gerhard Altenbourg, der inoffiziell erstmals 1959 über die West-Berliner Galerie Springer an der d2 beteiligt war. Die Künstler waren nicht von der DDR ausgewählt, sondern von der documenta eingeladen worden, »weil sie es verdienten«, so Schneckenburger. Kurator war auf Wunsch Willi Sittes, des Präsidenten des Verbands Bildender Künstler (VBK) der DDR, der Kunstwissenschaftler und ständige freie Mitarbeiter der Weltbühne, Lothar Lang. Dieser wählte die meisten Werke aus und bestimmte maßgeblich deren Hängung. Dabei kam es zu offen ausgetragenen Konflikten mit ostdeutschen Künstlern, die in die BRD übergesiedelt waren, so mit Penck, Baselitz und Lüpertz. Die Ausstellung berichtet mit Dokumenten über das, was durch Lothar Lang der Staatssicherheit darüber bekannt wurde. Dieser wiederum suchte aus eigenem Interesse auf der documenta Kontakte zu solchen Künstlern der BRD, wie Joseph Beuys und Wolf Vostell, die mit ihren innovativen Arbeiten gesellschaftspolitische Anliegen vertraten. Ein für Lothar Lang von Beuys signiertes documenta-Plakat »Direkte Demokratie« ist ebenso ausgestellt wie ein Malbuch von Walter Prankel, in dem der DDR-Kurator mit Beuys auf einem Blatt zu sehen ist. Es sind in der Ausstellung Videos mit Fernsehberichterstattungen sowie mit Interviews einiger DDR-Künstler durch Karl Oskar Blase abrufbar, darunter eins mit Lothar Lang, dem im Katalog eine Seite mit Foto und biografischen Angaben gewidmet ist. Wie aus den ausgestellten Stasi-Unterlagen hervorgeht, bezog sich die Berichterstattung von Lothar Lang auf kulturpolitische Aspekte und wertete den documenta-Auftritt der DDR als vollen Erfolg. Dieses deutsch-deutsche kunstgeschichtliche Ereignis ist bisher noch nie so kompakt, politisch unabhängig und sachlich anschaulich dargestellt worden.
Documenta. Politik und Kunst: bis 9. Januar 2022 im Deutschen Historischen Museum. Mit Katalog.