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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Poetisches Krisenbarometer

Es gibt nur weni­ge Zei­ten, in denen poli­ti­sche Lyrik flo­riert. Die 1790er waren eine sol­che Zeit. Ein Dich­ter wie Fried­rich Gott­lieb Klop­stock ließ es sich nicht neh­men, noch im hohen Alter die Ent­wick­lungs­etap­pen der fran­zö­si­schen Revo­lu­ti­on, die er voll­auf begrüß­te, zu kom­men­tie­ren. Das Echo auf sei­ne Oden und Ele­gi­en war enorm. Ähn­lich wirk­mäch­tig war die Vor­märz­ly­rik: Hein­rich Hei­ne zeig­te in »Deutsch­land. Ein Win­ter­mär­chen«, einem Vers­epos, dass poli­ti­sche Poe­sie den Rang des Klas­si­schen errei­chen konn­te. Ande­re Autoren wie Georg Her­wegh oder Fer­di­nand Frei­li­grath waren eher tages­po­li­tisch ori­en­tiert und such­ten in ihren Ver­sen die Sache der libe­ra­len Revo­lu­ti­on zu befördern.

Die poli­ti­sche Lyrik der 1920er Jah­re fand eine ande­re Situa­ti­on vor. Die Revo­lu­ti­on von 1918 war abge­würgt wor­den, das Erbe der Mon­ar­chie, die Halb­her­zig­keit der bür­ger­li­chen Par­tei­en und der her­auf­zie­hen­de Faschis­mus for­der­ten eine tages­po­li­tisch und gesell­schafts­kri­tisch enga­gier­te Lyrik her­aus, die die Gefahr einer gesell­schaft­li­chen Kata­stro­phe the­ma­ti­sier­te – man den­ke an Erich Käst­ner, Kurt Tuchol­sky oder Erich Weinert.

Nach 1945 kam es erst in den sech­zi­ger Jah­ren wie­der zu einer Blü­te poli­ti­scher Lyrik und poli­ti­scher Lie­der, aus­ge­löst durch die regres­si­ven Ten­den­zen der west­deut­schen Poli­tik und die Erwar­tungs­hal­tung einer jun­gen Gene­ra­ti­on, die eine wahr­haft demo­kra­ti­sche Gesell­schaft woll­te. Seit die­ser Zeit sind mehr als fünf­zig Jah­re ver­gan­gen. Auf­bruchs­be­we­gun­gen sind nicht in Sicht, Ansät­ze dazu ver­lie­fen meist im San­de. Ein Grund dafür sind die viel­fäl­ti­gen Kri­sen­er­fah­run­gen, die in der neu-alten Bun­des­re­pu­blik und im Westen ins­ge­samt prä­gend wirk­ten. Die­se begin­nen bereits in den neun­zi­ger Jah­ren. Der deut­sche Eini­gungs­pro­zess führ­te zu mas­si­ven öko­no­mi­schen Pro­ble­men und zu immer wie­der auf­flackern­den ras­si­sti­schen Aus­brü­chen. Das Kon­zept eines »Euro­päi­schen Hau­ses«, von dem man­che geträumt hat­ten, wur­de spä­te­stens im Nato­krieg gegen Ser­bi­en ad acta gelegt. Dies war nur der Anfang einer ziel­stre­big nach Osten gerich­te­ten Poli­tik, die auf ihren Sieg im System­kon­flikt poch­te. 2001 wur­de der Krieg gegen den Ter­ror aus­ge­ru­fen, der lang­jäh­ri­ge Kon­flik­te und die Zer­stö­rung zahl­rei­cher Staa­ten zur Fol­ge hat­te. 2007/​2008 brach die Ban­ken­kri­se aus, die nur durch den Ein­satz gigan­ti­scher Geld­mit­tel ent­schärft wer­den konn­te. Und seit 2019 über­la­gern sich gleich drei fun­da­men­ta­le Kri­sen: die Kli­ma­ka­ta­stro­phe, die nur dann abwend­bar sein wird, wenn die Welt­ge­mein­schaft ziel­stre­big und soli­da­risch vor­geht (was der­zeit nicht gera­de wahr­schein­lich ist), eine Covid-19-Pan­de­mie, die – unnö­ti­ger­wei­se – Mil­lio­nen Tote gefor­dert hat, sowie der Ukrai­ne­krieg, an dem sich eine Rei­he von Natio­nen aktiv durch enor­me Geld- und Waf­fen­lie­fe­run­gen betei­li­gen. Ein Ende ist nicht in Sicht. Eine wei­te­re Eska­la­ti­on liegt im Bereich des Möglichen.

Ein Auf­bruch in eine bes­se­re Welt erscheint fer­ner denn je. Viel­mehr ist es frag­lich, ob die anste­hen­den Fun­da­men­tal­pro­ble­me – die sich auch noch gegen­sei­tig ver­stär­ken – auch nur halb­wegs gelöst wer­den kön­nen. Was kann unter sol­chen Umstän­den poli­ti­sche Lyrik errei­chen? Las­sen sich über­haupt die aktu­ell drän­gen­den Fra­gen im Rah­men die­ser lite­ra­ri­schen Gat­tung dar­stel­len? Und kann man auf die­se Wei­se jene Grup­pen errei­chen, die an einer Lösung die­ser Fra­gen ernst­haft inter­es­siert sind? Von sol­cher Skep­sis lässt sich der Poli­tik­wis­sen­schaft­ler, Künst­ler und Schrift­stel­ler Rudolph Bau­er nicht beir­ren. Nach frü­he­ren Ver­öf­fent­li­chun­gen hat er in die­sem Jahr wie­der ein Bänd­chen mit neu­er poli­ti­scher Lyrik vor­ge­legt, das sich auf Ereig­nis­se und Ent­wick­lun­gen zwi­schen dem Früh­jahr 2020 und dem Früh­jahr 2022 kon­zen­triert. Es geht um Covid-19, genau­er: die staat­li­che Poli­tik bei der Bekämp­fung der Pan­de­mie, den Krieg in der Ukrai­ne (in der Anfangs­pha­se) sowie durch­gän­gig um die Flos­keln, Phra­sen und Sprach­re­ge­lun­gen der aktu­el­len Politik.

Das älte­ste, dem Geden­ken an Carl von Ossietzky gewid­me­te Gedicht the­ma­ti­siert eine Rede des Bun­des­prä­si­den­ten zum 8. Mai 2020. Bau­er tut, was die nor­ma­le Zuhö­rer- oder Leser­schaft kaum noch tut: Er schaut und hört genau hin und seziert Sät­ze, die sich leicht über­le­sen las­sen, Sät­ze wie die­sen: »Wir hat­ten uns die gan­ze Welt zum Feind gemacht.« Was wie ein kri­ti­sches Abset­zen von der Nazi­ver­gan­gen­heit daher­kommt, ist genau­er betrach­tet ein höchst pro­ble­ma­ti­sches, ja, letzt­lich ver­harm­lo­sen­des und auf jeden Fall irre­füh­ren­des State­ment, das kei­ner­lei Licht auf die wirk­li­chen Zusam­men­hän­ge wirft, son­dern die­se ver­ne­belt. Es wird der Ein­druck erweckt, Deutsch­land habe sich – durch irgend­ein nicht näher bezeich­ne­tes Ver­hal­ten – in eine schäd­li­che Iso­la­ti­on bege­ben, die dann letzt­lich in die Kata­stro­phe geführt habe. Was soll eine Ver­tre­te­rin der jüng­sten Gene­ra­ti­on von einer sol­chen For­mu­lie­rung hal­ten? Genau­so pro­ble­ma­tisch ist die »logi­sche« Fol­ge der Rede, jetzt, in der EU sei­en wir nicht mehr allein. Des­halb gel­te es, die EU zusam­men­zu­hal­ten. Der Bezug auf das Stich­wort »Befrei­ung« fällt eben­so pro­ble­ma­tisch, ja, bizarr aus: Damals wur­den wir befreit, heu­te müs­sen wir uns befrei­en, wie es heißt. Bau­er mon­tiert sol­che Ori­gi­nal­zi­ta­te in sei­nen Text, um zu zei­gen, dass der Appell an die Erin­ne­rung natür­lich nicht funk­tio­nie­ren kann, wenn die rea­le Geschich­te wie in einer Sonn­tags­pre­digt hin­ter wohl­mei­nen­den Phra­sen verschwindet.

Das wich­ti­ge Erin­nern an den 8. Mai wird somit zum Anlass für eine beschö­ni­gen­de bzw. instru­men­ta­li­sie­ren­de Sicht­wei­se. Reden die­ser Art sind kein Ein­zel­fall. Die Ten­denz zum Phra­sen­haf­ten und Ver­ne­beln­den ist gera­de­zu gang und gäbe. Das Her­ab­wür­di­gen­de sol­cher Hal­tun­gen wird auch beim Rat eines frü­he­ren Bun­des­prä­si­den­ten deut­lich, der ange­sichts der Ener­gie­kri­se den Min­der­be­mit­tel­ten ein­re­den will, »dass das frie­ren uns ver­gnügt«. Bau­er wid­met die­sem »ver­lo­ge­nem Gepfaf­fe« ein Gedicht, das im wit­zi­gen Ton eines Kin­der­lieds geschrie­ben ist. Und er lässt es sich nicht neh­men, der christ­lich getön­ten Opfer- und Ver­zichts­hal­tung das uto­pi­sche Pro­gramm einer fried­vol­len Welt, ohne Krie­ge »waf­fen­los und ohne Degen« entgegenzusetzen.

Das Haupt­the­ma der Samm­lung ist das Virus Covid-19. Ihm ist das lan­ge Ein­gangs­ge­dicht gewid­met, des­sen erste Ver­si­on aus dem Mai 2020 und des­sen Nach­trag vom März 2022 stammt. Dabei geht es um Hin­ter­grün­de und Neben­wir­kun­gen. Wie in den USA hat die Pan­de­mie ent­hüllt, in wel­chem Aus­maß die medi­zi­ni­sche Ver­sor­gung aus Grün­den der Pro­fit­ma­xi­mie­rung kom­pro­mit­tiert wur­de und wie vor allem die Mas­se der Min­der­be­mit­tel­ten, z. B. die Mil­lio­nen von Rent­ne­rin­nen und Rent­ner in den Alters­hei­men, benach­tei­ligt wer­den. Hin­ter der öffent­lich geschür­ten Hyste­rie ver­steckt sich das Inter­es­se der Rei­chen, auch der rei­chen Natio­nen, am Pro­fit, und des Staa­tes an Gän­ge­lung. Die Quint­essenz: »das virus soll uns alle taub und füg­sam /​ kon­trol­lier­bar machen.« Das Virus wird zum Feind sti­li­siert, dem man mit Macht begeg­nen müs­se. Die Angst vor dem Tod lenkt dabei ab von den wirk­li­chen Pro­ble­men der Gesell­schaft. Nach dem Febru­ar 2022 – nach dem all­mäh­li­chen Abeb­ben von Covid-19 – ist es nun ein neu­er Feind, den man ins Feld füh­ren kann. Fast naht­los ging das Schü­ren der Angst wei­ter: Nun ist es »ein mör­de­ri­scher krieg«, der »die welt den westen unse­re Frei­heit und die USA« bedroht. Statt Nach­for­schun­gen zur Vor­ge­schich­te anzu­stel­len und nach­hal­ti­ge Frie­dens­in­itia­ti­ven zu ergrei­fen, ergeht man sich im »blau-gel­ben Mit­leid«. Eine fun­dier­te Kri­tik des Krie­ges, der wohl am ehe­sten als Inter­ven­ti­ons­krieg bezeich­net wer­den kann, lie­fert Bau­er nicht. Dazu war es im März 2022 wohl auch zu früh.

Doch ein kri­ti­scher, bit­ter­bö­ser Blick fällt auf die Pro­fi­teu­re von Kri­se und Krieg. Sie haben die Dis­kur­se besetzt, bestim­men die öffent­li­che Dis­kus­si­on. Bau­er sieht dies als Sym­ptom und ver­fällt in den Ton einer Total­sa­ti­re. Aus dem »heck­ler­land« wird letzt­lich ein »heu­chel­land«. Ein »vasal­len­land«, das ver­schweigt, durch wen es regiert wird und für wen es regiert. Es ist zum »auf­rü­stungs­land«, zum »hun­dert mil­li­ar­den land« gewor­den. Dazu passt, dass es »das land des fal­schen erin­nerns /​ das land der gedenk­stät­ten ist«. Wirt­schaft und Poli­tik wer­den durch sol­ches Erin­nern nicht bestimmt.

Erstaun­lich sind die­se Fehl­ent­wick­lun­gen nicht. Die histo­ri­schen Erin­ne­run­gen sind, wie sich immer zeigt, höchst selek­tiv. Nazi­po­pu­lis­mus und Anti­se­mi­tis­mus sind zwar geäch­tet, doch der neue Popu­lis­mus nutzt ande­re Tech­ni­ken. Die zen­tra­len Leh­ren der Ver­gan­gen­heit – kein Krieg, kein Faschis­mus – sind weit­ge­hend ver­ges­sen. Und so ist es nicht ver­wun­der­lich, »dass fünf­und­sieb­zig jah­re nach welt­krieg zwei /​ erneut uns hass und unter­drückung frisst«.

Bau­er hakt immer wie­der bei ein­zel­nen Pro­ble­men und Anläs­sen ein und stellt letzt­lich die Fra­ge nach der gesell­schaft­li­chen Ver­fasst­heit, die sol­che Rück­fäl­le in auto­ri­tä­res und kriegs­ori­en­tier­tes Den­ken mög­lich macht. Stra­te­gien erge­ben sich dabei nicht. Die Hoff­nung auf eine bes­se­re Welt, wel­che die poli­ti­sche Lyrik in frü­he­ren Zei­ten beflü­gel­te, stellt sich nicht ein. Der Ton des Gan­zen ist dem­entspre­chend düster, die Hal­tung der Empö­rung, die sich gele­gent­lich ins Rhe­to­risch-Über­höh­te oder Sati­risch-Zuge­spitz­te stei­gert, domi­niert auf wei­te Strecken. Doch es wird auch aus­ge­spro­chen, dass wir – und damit ist die brei­te, zumeist im Pas­si­ven ver­har­ren­de Mas­se gemeint – etwas Bes­se­res ver­dient haben, als von Kri­se zu Kri­se, von Krieg zu Krieg gejagt zu wer­den. Dies wäre nicht zuletzt ein Gebot der immer wie­der zitier­ten und für das eige­ne Lager bean­spruch­ten Men­schen­wür­de. Die­se ist bekannt­lich unan­tast­bar, wenn man an die For­mu­lie­rung im Grund­ge­setz denkt. Soll­te es sich dabei even­tu­ell wie­der nur um ein »dür­res Nebel­wort« han­deln, wie es nach­denk­lich im Gedicht »Fra­gen zur Wür­de des Men­schen« heißt? Trotz aller Skep­sis hält Bau­er an der Visi­on eines mög­li­chen Sie­ges fest, wobei ein sol­cher »Sieg« nicht die Nie­der­la­ge des ande­ren bedeu­tet und auch nicht auf die eige­ne Bevöl­ke­rung beschränkt ist, denn »unse­re Sie­ge sind /​ waf­fen­los gewalt­frei /​ und himm­lisch /​ besei­tigt durch sie /​ wer­den die sor­gen /​ der armen der welt«.

Rudolph Bau­er, Von Covid-19 zu Putin-22. Neue poli­ti­sche Lyrik, pad-Ver­lag, 2022, 76 S., 6 €.