Es gibt nur wenige Zeiten, in denen politische Lyrik floriert. Die 1790er waren eine solche Zeit. Ein Dichter wie Friedrich Gottlieb Klopstock ließ es sich nicht nehmen, noch im hohen Alter die Entwicklungsetappen der französischen Revolution, die er vollauf begrüßte, zu kommentieren. Das Echo auf seine Oden und Elegien war enorm. Ähnlich wirkmächtig war die Vormärzlyrik: Heinrich Heine zeigte in »Deutschland. Ein Wintermärchen«, einem Versepos, dass politische Poesie den Rang des Klassischen erreichen konnte. Andere Autoren wie Georg Herwegh oder Ferdinand Freiligrath waren eher tagespolitisch orientiert und suchten in ihren Versen die Sache der liberalen Revolution zu befördern.
Die politische Lyrik der 1920er Jahre fand eine andere Situation vor. Die Revolution von 1918 war abgewürgt worden, das Erbe der Monarchie, die Halbherzigkeit der bürgerlichen Parteien und der heraufziehende Faschismus forderten eine tagespolitisch und gesellschaftskritisch engagierte Lyrik heraus, die die Gefahr einer gesellschaftlichen Katastrophe thematisierte – man denke an Erich Kästner, Kurt Tucholsky oder Erich Weinert.
Nach 1945 kam es erst in den sechziger Jahren wieder zu einer Blüte politischer Lyrik und politischer Lieder, ausgelöst durch die regressiven Tendenzen der westdeutschen Politik und die Erwartungshaltung einer jungen Generation, die eine wahrhaft demokratische Gesellschaft wollte. Seit dieser Zeit sind mehr als fünfzig Jahre vergangen. Aufbruchsbewegungen sind nicht in Sicht, Ansätze dazu verliefen meist im Sande. Ein Grund dafür sind die vielfältigen Krisenerfahrungen, die in der neu-alten Bundesrepublik und im Westen insgesamt prägend wirkten. Diese beginnen bereits in den neunziger Jahren. Der deutsche Einigungsprozess führte zu massiven ökonomischen Problemen und zu immer wieder aufflackernden rassistischen Ausbrüchen. Das Konzept eines »Europäischen Hauses«, von dem manche geträumt hatten, wurde spätestens im Natokrieg gegen Serbien ad acta gelegt. Dies war nur der Anfang einer zielstrebig nach Osten gerichteten Politik, die auf ihren Sieg im Systemkonflikt pochte. 2001 wurde der Krieg gegen den Terror ausgerufen, der langjährige Konflikte und die Zerstörung zahlreicher Staaten zur Folge hatte. 2007/2008 brach die Bankenkrise aus, die nur durch den Einsatz gigantischer Geldmittel entschärft werden konnte. Und seit 2019 überlagern sich gleich drei fundamentale Krisen: die Klimakatastrophe, die nur dann abwendbar sein wird, wenn die Weltgemeinschaft zielstrebig und solidarisch vorgeht (was derzeit nicht gerade wahrscheinlich ist), eine Covid-19-Pandemie, die – unnötigerweise – Millionen Tote gefordert hat, sowie der Ukrainekrieg, an dem sich eine Reihe von Nationen aktiv durch enorme Geld- und Waffenlieferungen beteiligen. Ein Ende ist nicht in Sicht. Eine weitere Eskalation liegt im Bereich des Möglichen.
Ein Aufbruch in eine bessere Welt erscheint ferner denn je. Vielmehr ist es fraglich, ob die anstehenden Fundamentalprobleme – die sich auch noch gegenseitig verstärken – auch nur halbwegs gelöst werden können. Was kann unter solchen Umständen politische Lyrik erreichen? Lassen sich überhaupt die aktuell drängenden Fragen im Rahmen dieser literarischen Gattung darstellen? Und kann man auf diese Weise jene Gruppen erreichen, die an einer Lösung dieser Fragen ernsthaft interessiert sind? Von solcher Skepsis lässt sich der Politikwissenschaftler, Künstler und Schriftsteller Rudolph Bauer nicht beirren. Nach früheren Veröffentlichungen hat er in diesem Jahr wieder ein Bändchen mit neuer politischer Lyrik vorgelegt, das sich auf Ereignisse und Entwicklungen zwischen dem Frühjahr 2020 und dem Frühjahr 2022 konzentriert. Es geht um Covid-19, genauer: die staatliche Politik bei der Bekämpfung der Pandemie, den Krieg in der Ukraine (in der Anfangsphase) sowie durchgängig um die Floskeln, Phrasen und Sprachregelungen der aktuellen Politik.
Das älteste, dem Gedenken an Carl von Ossietzky gewidmete Gedicht thematisiert eine Rede des Bundespräsidenten zum 8. Mai 2020. Bauer tut, was die normale Zuhörer- oder Leserschaft kaum noch tut: Er schaut und hört genau hin und seziert Sätze, die sich leicht überlesen lassen, Sätze wie diesen: »Wir hatten uns die ganze Welt zum Feind gemacht.« Was wie ein kritisches Absetzen von der Nazivergangenheit daherkommt, ist genauer betrachtet ein höchst problematisches, ja, letztlich verharmlosendes und auf jeden Fall irreführendes Statement, das keinerlei Licht auf die wirklichen Zusammenhänge wirft, sondern diese vernebelt. Es wird der Eindruck erweckt, Deutschland habe sich – durch irgendein nicht näher bezeichnetes Verhalten – in eine schädliche Isolation begeben, die dann letztlich in die Katastrophe geführt habe. Was soll eine Vertreterin der jüngsten Generation von einer solchen Formulierung halten? Genauso problematisch ist die »logische« Folge der Rede, jetzt, in der EU seien wir nicht mehr allein. Deshalb gelte es, die EU zusammenzuhalten. Der Bezug auf das Stichwort »Befreiung« fällt ebenso problematisch, ja, bizarr aus: Damals wurden wir befreit, heute müssen wir uns befreien, wie es heißt. Bauer montiert solche Originalzitate in seinen Text, um zu zeigen, dass der Appell an die Erinnerung natürlich nicht funktionieren kann, wenn die reale Geschichte wie in einer Sonntagspredigt hinter wohlmeinenden Phrasen verschwindet.
Das wichtige Erinnern an den 8. Mai wird somit zum Anlass für eine beschönigende bzw. instrumentalisierende Sichtweise. Reden dieser Art sind kein Einzelfall. Die Tendenz zum Phrasenhaften und Vernebelnden ist geradezu gang und gäbe. Das Herabwürdigende solcher Haltungen wird auch beim Rat eines früheren Bundespräsidenten deutlich, der angesichts der Energiekrise den Minderbemittelten einreden will, »dass das frieren uns vergnügt«. Bauer widmet diesem »verlogenem Gepfaffe« ein Gedicht, das im witzigen Ton eines Kinderlieds geschrieben ist. Und er lässt es sich nicht nehmen, der christlich getönten Opfer- und Verzichtshaltung das utopische Programm einer friedvollen Welt, ohne Kriege »waffenlos und ohne Degen« entgegenzusetzen.
Das Hauptthema der Sammlung ist das Virus Covid-19. Ihm ist das lange Eingangsgedicht gewidmet, dessen erste Version aus dem Mai 2020 und dessen Nachtrag vom März 2022 stammt. Dabei geht es um Hintergründe und Nebenwirkungen. Wie in den USA hat die Pandemie enthüllt, in welchem Ausmaß die medizinische Versorgung aus Gründen der Profitmaximierung kompromittiert wurde und wie vor allem die Masse der Minderbemittelten, z. B. die Millionen von Rentnerinnen und Rentner in den Altersheimen, benachteiligt werden. Hinter der öffentlich geschürten Hysterie versteckt sich das Interesse der Reichen, auch der reichen Nationen, am Profit, und des Staates an Gängelung. Die Quintessenz: »das virus soll uns alle taub und fügsam / kontrollierbar machen.« Das Virus wird zum Feind stilisiert, dem man mit Macht begegnen müsse. Die Angst vor dem Tod lenkt dabei ab von den wirklichen Problemen der Gesellschaft. Nach dem Februar 2022 – nach dem allmählichen Abebben von Covid-19 – ist es nun ein neuer Feind, den man ins Feld führen kann. Fast nahtlos ging das Schüren der Angst weiter: Nun ist es »ein mörderischer krieg«, der »die welt den westen unsere Freiheit und die USA« bedroht. Statt Nachforschungen zur Vorgeschichte anzustellen und nachhaltige Friedensinitiativen zu ergreifen, ergeht man sich im »blau-gelben Mitleid«. Eine fundierte Kritik des Krieges, der wohl am ehesten als Interventionskrieg bezeichnet werden kann, liefert Bauer nicht. Dazu war es im März 2022 wohl auch zu früh.
Doch ein kritischer, bitterböser Blick fällt auf die Profiteure von Krise und Krieg. Sie haben die Diskurse besetzt, bestimmen die öffentliche Diskussion. Bauer sieht dies als Symptom und verfällt in den Ton einer Totalsatire. Aus dem »hecklerland« wird letztlich ein »heuchelland«. Ein »vasallenland«, das verschweigt, durch wen es regiert wird und für wen es regiert. Es ist zum »aufrüstungsland«, zum »hundert milliarden land« geworden. Dazu passt, dass es »das land des falschen erinnerns / das land der gedenkstätten ist«. Wirtschaft und Politik werden durch solches Erinnern nicht bestimmt.
Erstaunlich sind diese Fehlentwicklungen nicht. Die historischen Erinnerungen sind, wie sich immer zeigt, höchst selektiv. Nazipopulismus und Antisemitismus sind zwar geächtet, doch der neue Populismus nutzt andere Techniken. Die zentralen Lehren der Vergangenheit – kein Krieg, kein Faschismus – sind weitgehend vergessen. Und so ist es nicht verwunderlich, »dass fünfundsiebzig jahre nach weltkrieg zwei / erneut uns hass und unterdrückung frisst«.
Bauer hakt immer wieder bei einzelnen Problemen und Anlässen ein und stellt letztlich die Frage nach der gesellschaftlichen Verfasstheit, die solche Rückfälle in autoritäres und kriegsorientiertes Denken möglich macht. Strategien ergeben sich dabei nicht. Die Hoffnung auf eine bessere Welt, welche die politische Lyrik in früheren Zeiten beflügelte, stellt sich nicht ein. Der Ton des Ganzen ist dementsprechend düster, die Haltung der Empörung, die sich gelegentlich ins Rhetorisch-Überhöhte oder Satirisch-Zugespitzte steigert, dominiert auf weite Strecken. Doch es wird auch ausgesprochen, dass wir – und damit ist die breite, zumeist im Passiven verharrende Masse gemeint – etwas Besseres verdient haben, als von Krise zu Krise, von Krieg zu Krieg gejagt zu werden. Dies wäre nicht zuletzt ein Gebot der immer wieder zitierten und für das eigene Lager beanspruchten Menschenwürde. Diese ist bekanntlich unantastbar, wenn man an die Formulierung im Grundgesetz denkt. Sollte es sich dabei eventuell wieder nur um ein »dürres Nebelwort« handeln, wie es nachdenklich im Gedicht »Fragen zur Würde des Menschen« heißt? Trotz aller Skepsis hält Bauer an der Vision eines möglichen Sieges fest, wobei ein solcher »Sieg« nicht die Niederlage des anderen bedeutet und auch nicht auf die eigene Bevölkerung beschränkt ist, denn »unsere Siege sind / waffenlos gewaltfrei / und himmlisch / beseitigt durch sie / werden die sorgen / der armen der welt«.
Rudolph Bauer, Von Covid-19 zu Putin-22. Neue politische Lyrik, pad-Verlag, 2022, 76 S., 6 €.