Wie kriegt man einen Kaffee aus der Kiste? Viele Piktogramme und keine Knöpfe. Gut, wenn einer 90 ist, ist das Unverständnis groß. Aber doch nicht, wenn man Erich John heißt und beispielsweise die Weltzeituhr auf dem Berliner Alexanderplatz gebaut und die Erika, die berühmte Reiseschreibmaschine, entworfen hat. Ach, sagt John, Altsein ist doof, und versucht sich an der Seite der Gerätschaft. Aber da sind nur Deckel für Pappbecher, keine Tassen. Wo soll man drücken, was kommt wo raus, wie stellt man das Gefäß rein, das man gar nicht hat? – Ach, Professor, sage ich, erst drückste da, dann dort, dann schauste zu, wie sich der Balken auf dem Display bewegt, und dann …
Was ist das für ein unpraktisches Design, wenn man erst einen Lehrgang besuchen muss, um einen Espresso zu kriegen?
Unsere Begegnung ist zufällig, der Ort keineswegs. John wurde zum Tag der Offenen Tür eingeladen, ich auch. John studierte hier in den fünfziger Jahren, 1958 gehörte er zum ersten Jahrgang, der an der Hochschule für Bildende und Angewandte Kunst Berlin-Weißensee das Diplom erhielt. Seit 1965 lehrte er selbst, und 27 Jahre später warf er den Bettel hin. Er sollte – wie die anderen Professoren auch – zwei Mentoren aus dem Westen beibringen, die ihm die Lehrbefähigung konzedierten. Seit 1982 übte John auch eine Gastprofessur an der Ohio State University in den USA aus, aber das genügte nicht als Zertifikat. Sein Sohn hatte nach der »Wende« in Altentreptow bei Neubrandenburg eine Tischlerei erworben. Da stieg Erich John mit 62 ein und realisierte Entwürfe für Innenausstattungen, ehe er nach drei Jahren in Altersrente ging.
Das erzählt John altersweise und pointiert in der Aula, die sich im Flügel befindet, den der Architekt Selman Selmanagić entwarf. Der Bosnier aus Srebrenica studierte am Bauhaus in Dessau und bekam 1932 das Diplom Nr. 100, unterschrieben von Mies van der Rohe. In Berlin lehrte der Bauhäusler von 1950 bis 1970 Architektur an eben jener Schule, die heute Kunsthochschule Berlin-Weißensee heißt (offiziell: weißensee kunsthochschule berlin) und an die neunhundert Studierende zählt.
Und eben diese Einrichtung öffnete am zweiten Wochenende im Juli ihre Pforten. Zum ersten Mal nach zwei Pandemiejahren durften Neugierige sich auf einen Rundgang begeben und Ateliers, Werkstätten und Abschlussarbeiten besichtigen. Oder eben in der Aula unter schlichten Kronleuchtern und zwischen Holzwänden aus den Werkstätten in Hellerau dem Gespräch zwischen dem einstigen Gestalter Erich John und Günter Höhne beiwohnen. Höhne, in den achtziger Jahren Chefredakteur der Design-Fachzeitschrift der DDR form+zweck, sammelte nach dem Untergang des Landes die Nachlässe von Form- und Industriegestaltern, stellte sie verschiedenen Museen zur Verfügung und publizierte darüber (zuletzt einen Gesprächsband mit Martin Kelm*, der als Staatssekretär so etwas wie der Design-Papst der DDR war). Wenn inzwischen das DDR-Design auch im Rest des Vaterlandes zu dem ihm gebührenden Ansehen gelangte, so ist das zu großen Teilen eben jenem Höhne zuzuschreiben; er ist vermutlich der beste Kenner der Design-Geschichte des Landes.
Dessen war sich wohl auch Angelika Richter bewusst, die seit einem reichlichen Jahr Rektorin der Einrichtung ist: Sie hatte nämlich Höhne und John zum Künstlergespräch gebeten. Die in den siebziger Jahren in Dresden geborene Kunsthistorikerin kommt nicht aus dem akademischen Betrieb und nicht aus dem Westen, arbeitete zuvor als Kuratorin und Kunstwissenschaftlerin im In- und im Ausland und feierte bei der diesjährigen Präsentation ihre Premiere als Gastgeberin.
Dem Gespräch in der gefüllten Aula wohnten auch viele frühere Lehrer und Studenten, nunmehr oft bekannte Künstler, bei. Es machte deutlich, dass sich die Rektorin des 1946 gegründeten Hauses bewusst ist, auf wessen Schultern sie steht. Was sie durchaus mit Dankbarkeit und Stolz quittierte. Zur Sprache kam auch, dass ostdeutscher Behauptungswille sich in den neunziger Jahren den Plänen erfolgreich widersetzte, die Schule der in Charlottenburg ansässigen Hochschule der Künste Berlin (seit 2001 Universität der Künste) anzuschließen, was gewiss ihre Beerdigung bedeutet hätte. Das Selbstbewusstsein pflanzt sich erkennbar fort.
Den Vorraum zur Aula schmückt ein Wandbild von Arno Mohr, das den beziehungsreichen Titel »Wendepunkt« trägt. Es atmet den Zeitgeist jenes schweren Aufbruchs nach dem Krieg. Zwischen den schuftenden Landarbeitern, Häuserbauern und sorgenvoll in die Zukunft Schauenden steht nicht nur ein Maler an der Staffelei – vermutlich der Künstler selbst –, sondern auch ein bekannter Mann mit Rauschebart als Signalgeber. Vom Optimismus, den Jahre später Walter Womacka – von 1968 bis 1988 Rektor in Weißensee – auf seiner »Bauchbinde« am Haus des Lehrers unweit von Johns Weltzeituhr verbreitete, ist auf Mohrs Wandbild nichts zu erkennen. Aber Marx ist da, und da bleibt er auch. Und das ist auch gut so.
Im gleichen Flügel gibt es noch ein zweites Wandbild im Treppenhaus. Es zeigt, zwischen zwei Eingangstüren eingeklemmt, einen Fischereihafen und stammt vom damaligen Dozenten Kurt Robbel. Dem verdankte Kollege Womacka die Anregung, seine konstruktiv-kompositorischen Ansätze weiter zu verfolgen. Ach, irgendwie waren die DDR-Künstler wie eine Familie, in der man sich wechselseitig anregte, befruchtete und bisweilen stritt und sich auch fetzte, wie es in jeder Familie auch passiert. Und die Schule in Weißensee war ein guter, kreativer Ort, wo solches möglich war.
John erwähnte wiederholt seinen Lehrer Rudi Högner, der maßgeblich das Industriedesign der DDR begründete, indem er die erste Generation industrieller Formgestalter nicht nur ausbildete, sondern prägte. (Als er 1972 emeritiert wurde, übernahm John seinen Platz am Pult, und Högner konnte wieder selbst gestalten; von ihm stammen zum Beispiel die Entwürfe der DDR-Münzen, im Volksmund »Alu-Chips« genannt.) Högner lehrte die jungen Leute, dass es auch bei der Gestaltung von Industriegütern auf Poesie und nicht auf Pose ankäme. Man müsse sowohl an die Verbraucher wie auch an die Produzenten denken, damit diese bei Herstellung und Einsatz nicht mehr Ressourcen verbrauchten als unbedingt nötig. Pose sei was für den Profit, mehr Schein als Sein. Das seien keine Kriterien für die Warenproduktion in der DDR. Wohl aber Nachhaltigkeit – die damals noch nicht so hieß. Die DDR hatte oft nur Stroh, und aus dem musste Gold gesponnen werden. Dazu brauchte es des Verstandes und der Vernunft. Klaus Staeck hatte wohl doch Recht mit seiner ironischen These: Nur die Armut gebiert Großes!
Höhne nutzte das Podium für einen Appell. Es sei mehr als an der Zeit, ein Deutsches Designmuseum zu gründen. Und dann zählte er auf, welche Einrichtungen in den letzten Jahren zugrunde gegangen waren oder aufgrund reduzierter öffentlicher Unterstützung ein unbeachtetes Dasein in der Nische führen. Er nannte die 1950 an der Hochschule von dessen Rektor Mart Stam – holländischer Bauhäusler und Erfinder des berühmten »Freischwingers«, des Stuhls ohne Füße – begründete »Sammlung Industrielle Gestaltung«. Sie wurde, so Höhne, nach der Wiedervereinigung hin und her geschoben, Ende 2005 ging sie als Schenkung an das Bonner Haus der Geschichte. »Nach der Vereinnahmung« wurde es von diesem »notgedrungen und notdürftig mitverwaltet«. Dieser einzigartige Schatz dinglicher deutscher (nicht nur ostdeutscher!) Design-Geschichte werde, so Höhnes Klage, »vorwiegend als Arsenal genutzt für ideologische Haus-Ausstellungen zur vorgeblich historisch-wissenschaftlichen ›Aufarbeitung der SED-Diktatur‹«. Und fast entschuldigte er sich für dieses offene Wort am Tag der Offenen Tür in Weißensee. Aber er fand damit offene Ohren, wie der Applaus zumindest in der Aula bewies.
Der Vollständigkeit halber soll noch erwähnt werden, dass das Angebot der Kunsthochschule angenommen wurde. In den Gängen und Werkstätten, in den Ateliers und Ausstellungsräumen, auf allen Ebenen und zwischen den Gebäuden drängte sich viel junges Volk. Auf den grünen Flächen zwischen den Gebäuden jagten die Kinder den Bällen nach, wanden sich Schlangen vor den Tankstellen und folgten brav Hunde an der Leine, Volksfest also in Weißensee, mit beträchtlichem Ausländeranteil. Englisch schien die am häufigsten gepflegte Umgangssprache, auch die gedruckten Erklärungen für die verschiedenen Objekte waren meist zweisprachig. Es gab viel Mode zu sehen – auf zwei Beinen oder an Modepuppen –, es gab Malwerke und Plastiken, Beispiele für visuelle Kommunikation sowie Textil- und Flächen-Design, Bühnen- und Kostümbilder und dergleichen mehr. Nach meinem Geschmack mitunter zu viel Pose statt Poesie, aber wer will es den Studierenden vorwerfen? Sonnenschirme, die sich bei starkem Lichteinfall selbst entfalten, »extraterrestrisches Bauen« (auf dem Mond), Objekte für den Bahnhof (»Plattform: Playground«), die »den Bahnsteig zu einem lebendigen, inklusiven Ort (machen), an welchem alle Menschen, insbesondere Kinder, entspannt und wahrgenommen kürzer auf ihre Bahn warten« …
Zugeben, der Eindruck ist oberflächlich, damit das Urteil ungerecht. Aber mir scheint, dass, anders als zu DDR-Zeiten, mitunter die Verbindung zu den Adressaten, zu den Abnehmern, potentiellen Auftraggebern und Produzenten fehlt. Nicht wenige, so war zu hören, gehen nach der Schule gleich in die Arbeitslosigkeit. Da waren Absolventen wie Erich John besser dran: Bereits ihre Studenten-Arbeiten wurden sofort produziert – Kameras, Kräne, Fernseher, Geschirr. Sie hatten eine klare Perspektive. Selbstironischer Kommentar in der Keramikwerkstatt auf einem Zettel an der Wand: »Oh, du studierst Kunst? – Was machst du dann den ganzen Tag?« Und wovon wirst du leben?
Johns Weltzeituhr übrigens, die seit 2015 unter Denkmalschutz steht und für die er 2021 das Bundesverdienstkreuz am Bande erhielt, erfuhr nach der »Wende« einige Korrekturen. Aus Bratislava wurde Pressburg und aus Leningrad St. Petersburg. Tel Aviv und Jerusalem wurden hinzugefügt. Wie das halt so ist mit dem Zeitgeist. Und dem Umgang mit dem Urheberrecht von Kunstwerken.
* Günter Höhne: Design Made in GDR. Der Formgestalter Martin Kelm im Gespräch, Das Neue Berlin, Berlin 2021, 256 S., 16 €.