Politische Dichtung war in der alten BRD lange verpönt. Die Lyrik, die man an Schule und Uni vermittelte, war vor allem die klassische Lyrik Goethes und Schillers. Die Lyrik des 19. oder frühen 20. Jahrhunderts war bereits weniger stark vertreten und bewegte sich fast immer im Bereich des Innerlichen oder Esoterischen. Die Moderne nahm man nur in Kostproben zu sich, dazu gehörten Texte von Ingeborg Bachmann und Paul Celan. Ausgesprochen politische Lyrik, also etwa diejenige aus dem Umkreis des Vormärz, kam nicht vor. Sie galt, wenn man überhaupt davon hörte, als minderwertige Tendenzdichtung. Doch dann erregte Mitte der sechziger Jahre ein Gedichtband Erich Frieds ungewöhnliche Aufmerksamkeit: Der Titel »und Vietnam und« zeigte schon an, dass es um Politik ging und mehr noch: um Stellungnahme zu einem aktuellen Thema, zum amerikanischen Krieg in Südostasien, der auch von der BRD unterstützt wurde. Natürlich traten sofort die Kritiker auf den Plan, die eine solche Thematisierung als poesiefeindlich brandmarkten oder zumindest auf einer poetischen Verklausulierung bestanden. Andere dagegen, wie etwa Peter Rühmkorf, wiesen auf den unverwechselbaren Gebrauchswert solcher Dichtung hin: Sie wirke wie ein Dechiffriergerät. Wo sonst könnte man in der restriktiven Öffentlichkeit auf solch effektive Weise Dinge ans Licht bringen und die Leserschaft zum Nachdenken animieren? Die immer hermetischer werdende (und immer weniger gelesene) »moderne« Lyrik könne dies nicht, zumal sie allenfalls einen vagen Nonkonformismus vertrete.
Frieds Gedicht signalisierte den Beginn einer Hochzeit der politischen Lyrik, eines neuen Engagements. Sie war Ausdruck einer generellen Politisierung der Intelligenz, die Anfang der sechziger einsetzte und die sich auch im Bereich des Theaters, des Kabaretts oder des politischen Liedes bemerkbar machte. Die politische Lyrik sollte in diesen Jahren einen erstaunlichen Formenreichtum entwickeln, der von der Ballade bis zum Epigramm reicht – man denke etwa an Gerd Semmer, Lieselotte Rauner, Dieter Süverkrüp. Franz Josef Degenhardt, Arnfried Astel oder unter den Jüngeren an F. C. Delius, Fasia Jansen oder Uwe Timm. Die Breitenwirkung solcher politischen Dichtung war allerdings an die Aufbruchsstimmung dieser Jahre gebunden, nur einzelne Künstlerinnen und Künstler hielten an ihren Konzepten bis in die achtziger Jahre fest, danach setzte wieder die sattsam bekannte Verteufelung jedes linken Engagements ein. Doch warum sollte man heute nicht an die Erfahrungen aus den sechziger Jahren anknüpfen können? Schließlich hat man damals vorgeführt, wie operativ eine ans Aktuelle anschließende Dichtung sein kann und welcher Formenreichtum dabei zur Verfügung steht. Die politischen Probleme der Gegenwart sind wahrlich gravierend genug. Dank eines weitgehend eindimensionalen Mainstreams besteht geradezu die Notwendigkeit zum Blick hinter die Oberfläche und zur Aktivierung einer allzu passiven, in sich zersplitterten Leserschaft.
Hinzuweisen ist auf zwei Bände des Lyrikers Rudolph Bauer, die zeigen, wie machtvoll, ja aufrüttelnd politische Dichtung auch heute sein kann. Der Titel des ersten lautet »Aus gegebenem Anlass«, womit bereits auf das politisch Aktuelle hingewiesen wird. Bauers Texte sind auf konkrete Anlässe bezogen, die eine politische Analyse oder Position geradezu provozieren. Gerade die lakonische Verdichtung erweist sich dabei als besonders wirksam.
Bauer knüpft an Wolfgang Borcherts »Manifest« an, an dessen mehrfach wiederholten Appell »Nein« zu sagen, womit er 1947, wenige Tage vor seinem Tod, auf die Gefahr eines neuen Militarismus hinwies. Bauer aktualisiert. Wo Borchert den »Mann an der Maschine und in der Werkstatt« auffordert, keine Stahlhelme oder Maschinengewehre zu produzieren (»Sag NEIN!«), spricht Bauer, in verknappender, verdichtender Versform, von moderner Waffentechnik und Mitteln, Menschen durch ökonomischen Druck gefügig zu machen. Wie bei Borchert werden verschiedene gesellschaftliche Gruppen angesprochen. Etwa wenn es um Mädchen und Frauen geht, die man mit einem besonders ausgefeilten Konsumterror überzieht, um Fabrikbesitzer, denen der Waffenhandel ein »Bombengeschäft« sowie »Orden aus Blech« verspricht, um Dichter, die bei »Hassgesängen« größere Aufmerksamkeit erreichen, um Schiffskapitäne, Piloten und andere. Nur ein klares Nein muss die Antwort auf diese »modernen« Verführungs- und Verdrängungsversuche sein, die verschweigen oder übertünchen »was ihr besser niemals / vergesst dass das morden / neuen terror erzeugt / neue angst gebiert / neues unrecht / und neue kriege«.
Andere Texte stellen die Wurzeln des alten und neuen Militarismus als Teil einer unseligen Entwicklung heraus, etwa in der »Hunnenrede des Wilhelm II«, oder den Texten über die nie abreißenden Lobreden auf den Kolonialismus, die Brutalität des KZ-Terrors oder die ungesühnten Massaker im Zweiten Weltkrieg, etwa an Griechen oder italienischen Soldaten. Bauers Lyrik variiert die Themen und historischen Bezüge und zeigt dabei einen Formenreichtum, der auch Haikus, Distichen und Aphorismen einschließt. Neben traurig-melancholischen Rückblicken finden sich tagesaktuelle Bezüge und frappierende historische Parallelen, die nur noch Sarkasmus und Empörung nahelegen: So war die vermutlich als patriotisch-aufmunternd geltende Parole »Du bist Deutschland« ursprünglich auf Hitler gemünzt. Selbst Mittel der konkreten Poesie setzt Bauer ein, etwa im »Verfassungsschutzslamm« oder im »Vom Schützenschützen der Verfassung«, das mit den Zeilen endet: »unverhohlen wird auch anempfohlen zu / verstehn / warum verfassungsschützer nazis / schützend müssen schützen gehn«. Gelegentlich kommt auch Positiv-Utopisches zur Sprache, etwa die Vision der Gewaltlosigkeit. Doch der Haupttenor dieser Texte, die oft wie Flugschriften wirken, liegt im Appell an die Verweigerung und an ein dementsprechendes Handeln oder Kämpfen. Im Gedicht »Vermächtnis«, genau in der Mitte des Bandes, heißt es: »kämpft für den frieden / gegen den krieg / kämpft gegen krieg / kämpft gegen das unrecht / kämpft«.
Ein vor kurzem erschienener zweiter Gedichtband, »Zur Unzeit, gegeigt«, setzt die Orientierung an aktuellen Entwicklungen fort. In einem derb-bajuwarischen »Schnaderhüpferl« wird das für 2020 geplante Nato-Manöver »Defender« aufs Korn genommen, der Refrain jeweils leicht variiert und dadurch eingängig: »kriag deaf net sei’ / frieden muass sei’«. Viel Raum wird historischen Ereignissen gewidmet, dem deutschen Narrativ gescheiterter Kriege und Revolutionen, wobei Bauer den passenden Gegentext zu den offiziellen Feiern liefert, die sich im oberflächlichen Gedenken an die Opfer erschöpfen und die tatsächlichen Gegebenheiten verdrängen oder verfälschen. Der Titel der Sammlung verweist darauf, dass wirkliches Gedenken, wie z. B. der Totentanz von Hans Henny Jahn »zur Unzeit« kommt. Besonders beeindruckend sind Texte, die kenntlich machen, wie die gängigen »schmähworte« (etwa Asylant oder Flüchtlingsheer) genutzt werden, um Gruppen auszugrenzen und notfalls auch physisch, »mit tötungsdrohnen / orbitalen kampfspionen« zu bedrohen. Krieg und Gewalt sind stets gegenwärtig in diesen Texten, was durch die beigegebenen Bildmontagen noch unterstrichen wird. Die dort genutzten, sich gegenseitig verfremdenden Fotos zeigen das Martialisch-Bedrohende und Obszöne öffentlich ausgestellter Gewalt und das leere Lächeln jener Politikerinnen und Politiker, die sie verkaufen, als handle es sich um Zahnpasta. Der abschließende Text, ein »Neues Manifest for future« ist dem Kampf gegen die Klimakrise gewidmet. Wie im ersten Band geht der Appell an die Leserschaft. Nur durch solidarisches Handeln lässt sich der verseuchte, geschundene Planet retten und das »glück der zukunft« erobern. Erneut wirken viele Texte wie Flugschriften, die konkrete Erfahrungen pointieren und in zitierfähigen Sätzen bündeln. Politische Lyrik dieses Kalibers hat einen unbestreitbaren Nutzwert. Man kann ihr nur eine weite Verbreitung wünschen.
Rudolph Bauer / Thomas Metscher, Aus gegebenem Anlass. Gedichte und Essay, Hamburg 2018, 194 Seiten
Rudolph Bauer, Zur Unzeit, gegeigt. Politische Lyrik und Bildmontagen, Hamburg 2020, 160 Seiten