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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Piranesi: Akribisch, virtuos, umstritten

Für die einen waren sei­ne »car­ce­ri d’invenzione«, sei­ne erdach­ten Gefäng­nis­se, mit ihren gewal­ti­gen Raum­fluch­ten und unend­li­chen Laby­rin­then die eigent­li­che Welt des Künst­lers, für die ande­ren waren es die blo­ßen Sze­na­ri­en zügel­lo­ser Ein­bil­dungs­kraft, der Alp­träu­me und Schreckens­vi­sio­nen, in denen sie die Abgrün­de des eige­nen Ich wie­der­fan­den. Auf alle Fäl­le galt er schon zu Leb­zei­ten, im Zeit­al­ter der euro­päi­schen Auf­klä­rung und des Klas­si­zis­mus, als eine Aus­nah­me­erschei­nung, die­ser römi­sche Vene­zia­ner, der Archi­tekt und Anti­quar, der Zeich­ner und Radie­rer Gio­van­ni Bat­ti­sta Pira­ne­si (1720 – 1778), der auch ein geschäfts­tüch­ti­ger Kunst­händ­ler war. Er ver­maß und rekon­stru­ier­te das dem Ver­fall wider­ste­hen­de anti­ke Rom in sei­ner per­spek­ti­vi­schen Viel­falt mit gro­ßer Akri­bie und Vir­tuo­si­tät und sah in den visio­när über­ein­an­der getürm­ten Rie­sen­bau­ten der Römer den ver­pflich­ten­den Aus­druck schöp­fe­ri­scher Ori­gi­na­li­tät, den er sei­nem Jahr­hun­dert anemp­fahl. Man weiß nicht, ob es mehr der küh­ne, visio­nä­re Dich­ter als der genau kal­ku­lie­ren­de Archi­tekt war, der ihm den Ruhm sei­ner Mit- und Nach­welt ein­trug. Von der euro­päi­schen Roman­tik wur­de Pira­ne­si in die Schar ver­we­ge­ner Empö­rer gegen gött­li­ches Gebot von Luzi­fer und Pro­me­theus bis zu Michel­an­ge­lo ein­ge­reiht, in der er sich zwei­fels­oh­ne selbst gern gese­hen hätte.

Zu sei­nem 300. Geburts­tag zeigt jetzt die Kunst­bi­blio­thek der Staat­li­chen Muse­en zu Ber­lin, die zusam­men mit dem benach­bar­ten Kup­fer­stich­ka­bi­nett über eine bedeu­ten­de Samm­lung sei­ner Druck­wer­ke, Zeich­nun­gen und Radie­run­gen ver­fügt, erst­mals in die­ser Dich­te und Brei­te das Werk des ita­lie­ni­schen Mei­sters. Mit den »Vedu­te di Roma – Ansich­ten von Rom«, dem monu­men­tal­sten Werk Pira­ne­sis, das in einer reprä­sen­ta­ti­ven Aus­wahl vor­ge­führt wer­den kann, wan­dert der Besu­cher gleich­sam durch die anti­ke wie moder­ne Bau­kul­tur des 18. Jahr­hun­derts, wirft einen Blick ins Colos­se­um, betrach­tet den Sep­ti­mus-Seve­rus-Bogen auf dem Römi­schen Forum, ist über­wäl­tigt vom Pan­ora­ma der Piaz­za Navo­na, unter­nimmt eine Boots­fahrt vor­bei an der Engels­burg, lässt die von Pflan­zen über­wu­cher­ten Über­re­ste der Dio­kle­ti­ans­ther­men oder die impo­san­te Schutz­mau­er des Augu­stus­fo­rums auf sich wir­ken. So etwa könn­te auch das Pflicht­pro­gramm des heu­ti­gen Rom-Besu­chers aussehen.

Pira­ne­sis archäo­lo­gi­sche Wer­ke erreich­ten nicht die glei­che Wir­kung – sie waren schon zu Leb­zei­ten hef­tig umstrit­ten – wie sei­ne »Ansich­ten von Rom«, die im Grun­de das visio­nä­re Bild der Ewi­gen Stadt im 18. und 19. Jahr­hun­dert präg­ten. Wäh­rend Johann Joa­chim Win­ckel­manns ästhe­ti­sches Ide­al der »edlen Ein­falt und stil­len Grö­ße«, wie er erst­mals 1755 die grie­chi­sche Skulp­tur cha­rak­te­ri­siert hat­te, zuse­hends an Ein­fluss gewann, ver­tei­dig­te Pira­ne­si in der grie­chisch-römi­schen Kon­tro­ver­se die Ori­gi­na­li­tät und Eigen­stän­dig­keit der römi­schen Archi­tek­tur. Er woll­te die Struk­tu­ren der anti­ken Stadt, die unver­gleich­li­che Viel­falt ihrer monu­men­ta­len Grund­riss- und Raum­for­men im Spie­gel des von ihr gepräg­ten moder­nen Rom erken­nen und dar­stel­len. Ent­ste­hen und Ver­fall soll­ten im unauf­halt­sa­men Fort­schrei­ten der Zeit begrif­fen werden.

Die »Vedu­te di Roma« führ­te der Künst­ler vom Ende der 1740er Jah­re bis zu sei­nem Tode ein­zeln oder grup­pen­wei­se aus und präg­te damit die kon­ven­tio­nel­le Form der gra­fi­schen Vedu­te – zum Sou­ve­nir ver­kom­men – zu einer Dar­stel­lung von höch­ster expres­si­ver Kraft um. Vir­tu­os setz­te er sei­ne gra­fi­schen Mög­lich­kei­ten ein – ange­fan­gen von dem an- und abschwel­len­den Duk­tus der Lini­en über die Gestal­tung einer male­risch anspre­chen­den Sze­ne­rie bis zum dyna­mi­schen Spiel der Luft­per­spek­ti­ve und der Licht­ef­fek­te, dem Set­zen male­ri­scher Kon­tra­ste und Spannungen.

Den teils anti­ki­sie­ren­den, teils barocken Phan­ta­sie-Archi­tek­tu­ren ist nicht anzu­mer­ken, dass der Künst­ler den rea­len Bau­zu­stand mit­be­dacht hät­te. Nach­ge­zeich­ne­te römi­sche Anti­ken und frei nach­emp­fun­de­ne Archi­tek­tur­re­ste sind mit­ein­an­der ver­wo­ben. Der Betrach­ter fühlt sich gleich­sam in das unüber­schau­ba­re System der Bau­ten, in die unend­li­chen Fluch­ten von Gale­rien, Trep­pen­häu­sern und Säu­len­hal­len mit ein­be­zo­gen. Er kommt sich eben­so ver­lo­ren vor wie die Figu­ren auf Trep­pen und Denk­mal­sockeln, die unmög­lich die Bau­mei­ster die­ser mäch­ti­gen Archi­tek­tur­wer­ke gewe­sen sein kön­nen. Es gibt bei Pira­ne­si enor­me Kon­tra­ste in den Raum- und Grö­ßen­ver­hält­nis­sen, aber auch in den Bedeu­tungs­ebe­nen zwi­schen All­tags­welt und hoher Kul­tur. Aber gera­de die­se Kon­tra­ste schaf­fen dra­ma­ti­sche Sze­ne­rien. Das heroi­sier­te Ein­zel­mo­nu­ment wird zum bered­ten Zeug­nis einer über­ra­gen­den Geschich­te, das in einem gro­tes­ken Miss­ver­hält­nis zu sei­ner gegen­wär­ti­gen Umge­bung steht. Er war alles ande­re als ein Phan­tast und krank­haf­tes Genie, das außer­halb sei­ner Zeit und Umwelt stand. In sei­nen Rom-Vedu­ten hat er archäo­lo­gi­sche Rekon­struk­ti­on und phan­ta­sti­sche Fik­ti­on zusam­men­ge­fügt und damit der Mit- und Nach­welt eine außer­ge­wöhn­li­che Her­aus­for­de­rung übermittelt.

Aber auch die »Car­ce­ri« wur­den in der Über­ar­bei­tung von 1760 für die künst­le­ri­sche Avant­gar­de der nach­fol­gen­den Gene­ra­tio­nen zu einer chif­frier­ten Bot­schaft über die Geheim­nis­se einer vom Sub­jekt nur mehr schein­bar beherrsch­ten Wirk­lich­keit, in der die Gren­zen zwi­schen Innen- und Außen­welt gefal­len waren, das Spiel mit dem Unbe­wuss­ten ins Unend­li­che getrie­ben wer­den konn­te. Per­spek­ti­ve und Beleuch­tung füh­ren zu den Para­do­xien der Kon­struk­ti­on, zum Traum­cha­rak­ter und zur Kulis­sen­haf­tig­keit der Ker­ker­sze­nen, die von einer viel­deu­ti­gen Schat­ten­welt mensch­li­cher Wesen bevöl­kert wer­den. Alles dient der Rekon­struk­ti­on eines Wachtraums im Ich des Betrach­ters. Mit den »Car­ce­ri« wur­de Pira­ne­si zum Anre­ger und Vor­läu­fer des moder­nen Sub­jek­ti­vis­mus: Der Künst­ler nicht mehr als Nach­ah­mer der Natur, son­dern selbst Schöp­fer einer Welt nach den Geset­zen der Phan­ta­sie, die er der Wirk­lich­keit abringt.

Der heu­ti­ge Betrach­ter der ima­gi­nä­ren Gefäng­nis­se Pira­ne­sis, der Ker­ker sei­ner Phan­ta­sien, fühlt sich aber weni­ger den gefes­sel­ten Tita­nen in der Art der Skla­ven Michel­an­ge­los ver­wandt als viel­mehr dem Knäu­el gequäl­ter Mensch­heit in Pira­ne­sis Ver­lie­sen: »win­zig und stumm /​ schlaf­lo­se träu­mer /​ gefan­ge­ne /​ nicht besieg­te«, wie es in Hans Magnus Enzens­ber­gers Gedicht »car­ce­ri d’invenzione« heißt.

 

»Das Pira­ne­si-Prin­zip. Zum 300. Geburts­tag des gro­ßen ita­lie­ni­schen Mei­sters«, Kunst­bi­blio­thek, Staat­li­che Muse­en zu Ber­lin, Kul­tur­fo­rum Pots­da­mer Platz, Ein­gang: Mat­thäi­kirch­platz, Di, Mi, Fr 10-18 Uhr, Do 10-22 Uhr, Sa und So 11-18 Uhr, bis 7. Febru­ar 2021, Kata­log 27 €