Ein Lärm ist entstanden. Die Empörung ist groß. Es rauscht im Blätterwald, ein Sturm erhebt sich. In Kassel wurde ein großes Bild aufgehängt. Es bedeckt die Front eines ganzen Gebäudes. Es trägt den Titel: »PEOPLE’S JUSTICE: Das indonesische Volk hält Gericht«. Ein Wimmelbild mit vielen Figuren. In der Mitte folternde und mordende Schergen des Suharto-Regimes; rechts die Kämpfer gegen die Diktatur, links Monster des Militarismus und kapitalistischer Ausbeutung. So weit, so gut. Aber o weh! Unter diesen hat man zwei entdeckt, die »eindeutig antisemitisch« sind. So steht es in der seriösen Zeit. Ich mag es nicht glauben und lese weiter:
»In einer Reihe von Soldaten oder Polizisten, die auf ihren Helmen als KGB, 007, MI-5 bezeichnet sind, trägt eine Figur mit Schweineschnauze die Aufschrift Mossad, den Namen des israelischen Auslandsgeheimdienstes. Auf einem roten Tuch um seinen Hals prangt ein Davidstern. Zwischen kleinen Teufeln, einem gekrönten Engel, dem Geldscheine aus den Taschen quellen, und Frauen, die mit gespaltener Zunge reden, steht hinter einem bösen Clown zudem ein Mann, der bei genauem Hinsehen als orthodoxer Jude zu erkennen ist. Seine Zähne sind spitz wie bei einem Raubtier. Auf seinem Hut, unter dem Schläfenlocken herunterhängen, prangen SS-Runen.«
Die beiden Gestalten bezeichnen also nicht Juden schlechthin, wie das bei einer antisemitischen Darstellung der Fall wäre, sondern den israelischen Geheimdienst und orthodox-religiöse Juden. Gewiss können solche Darstellungen antisemitisch motiviert sein, müssen es aber nicht. Der Mossad ist denn auch nicht einem »Judentum« zuzuordnen, sondern Geheimdiensten anderer Staaten. Der Davidstern dürfte in diesem Zusammenhang als Symbol des Staates Israel und nicht als das ältere jüdische Symbol zu verstehen sein. Die Schweineschnauze ruft Assoziationen an die »Judensau« hervor, die widerliche Schmähung der Juden an mittelalterlichen Kirchen. Auch die Schweinschnauze ist offenbar eine diffamierende Darstellung von Juden, aber was ein indonesischer Künstler mit ihr genauer aussagen will, sollte man herausfinden, bevor man urteilt.
Die andere Figur ist in der Zeit abgebildet. Dem unbefangenen Blick bieten sich als hervorstechende Merkmale der genannte Hut, der das Aussehen einer flachen Melone hat, und die scharfen Zähne an. Hinzu kommen Brille, Zigarre und eine kräftige Nase. Die Schläfenlocken, zwei einfache Striche, lassen sich tatsächlich erst bei genauem Hinsehen ausmachen. Gebetsriemen und der für orthodoxe Juden typische Hut fehlen. Insgesamt erinnert die Figur an Zeichnungen von George Grosz, der gewiss kein Antisemit war. Wenn sie aber einen Juden kennzeichnen soll, stellt sich die Frage, wie und warum sie überhaupt ins Bild kommt. Was hat ein religiös-orthodoxer Jude mit der Suharto-Diktatur zu tun?
Die Auffassung, dass beide Figuren antisemitisch seien, steht auf schwachen Füßen, doch sie wird kaum in Frage gestellt. Ich sehe in ihr einen unbedachten Abwehrreflex gegen Antisemitismus, der in unserer Gesellschaft sein Unwesen treibt und zurecht Empörung hervorruft. Sie ergibt sich nicht aus einer unbefangenen Betrachtung, sondern aus der Verkehrung eines methodisch gebotenen Gedankengangs. Statt von den markanten Zeichen auszugehen und ihnen das weniger auffällige zuzuordnen, wird umgekehrt verfahren. Scharfe Zähne, sogar SS-Runen werden so zu einem Ausweis religiöser Juden, ja, überhaupt des Judentums.
Reflexhafte Reaktionen statt reflektierter Gedanken kann man auch in anderen Fällen unseres öffentlichen Diskurses ausmachen. Sie sind nicht selten, aber gerade bei Antisemitismusvorwürfen ungeheuer ärgerlich. Der Begriff Antisemitismus hat seine Konturen verloren. Jede gegen Juden oder auch nur gegen den Staat Israel gerichtete kritische Äußerung gerät in den Verdacht, antisemitisch zu sein. Das kann zwar zutreffen, muss aber begründet werden. Sonst droht, dass der Begriff verwässert, sein rassistischer Kern aufgeweicht wird.
Für den Rassisten sind die Menschen in Rassen geschieden, als seien sie Tiere, als seien sie Lebewesen, die man züchten oder auch töten kann. Die Nazis haben gezeigt, welche Konsequenzen für die politische Praxis aus dieser Wahnvorstellung gezogen werden können. Als selbst ernannte Angehörige der »Herrenrasse« unterdrückten sie Polen und Russen, die slawischen »Untermenschen«, ermordeten sie Juden, Sinti und Roma. Es muss uns bewusst bleiben, welches Ausmaß Rassismus erreichen kann.