»Du bist der Vater aller armen Leute …« – so die erste Zeile eines Gedichtes des deutschen Schriftstellers Max Zimmering zum 80. Geburtstag seines dänischen Schriftstellerkollegen Martin Andersen Nexø. Der französische Schriftsteller Romain Rolland verglich ihn sogar mit Maxim Gorki: »Beide haben der Weltliteratur so große Werke von Wahrheit und Kampf geschenkt.« Obwohl Andersen Nexø zu den ersten nordeuropäischen Schriftstellern gehörte, die die soziale Problematik aufgriffen, ist er heute weitgehend in Vergessenheit geraten. Selbst zu seinem diesjährigen 150. Geburtstag gab es keine Nachauflage eines seiner Werke, und die Biografie »Der trotzige Däne Martin Andersen Nexø« des Schweizer Autors Aldo Keel liegt bereits fünfzehn Jahre zurück.
Martin Andersen Nexø wurde am 26. Juni 1869 in Christianshavn, einem Arbeiterviertel von Kopenhagen, als Sohn eines Straßenbauarbeiters und Steinhauers geboren. Er wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf. 1879 siedelte die Familie nach Nexø (Bornholm) über. Auf der Ostseeinsel war er zunächst Hütejunge und Stallknecht, dann folgte eine Schuhmacherlehre. Bereits in diesen frühen Jahren begann er, die deutsche Sprache zu erlernen. Als Zwanzigjähriger war er zunächst arbeitslos, danach unterrichtete er an der Bornholmer Bauernvolkshochschule. Seine ersten dänischen dichterischen Versuche unternahm Andersen Nexø 1893, als er an Tuberkulose erkrankte. Die erste Erzählung »Lotterisvensken« – von ihm selbst Mitte der 1920er Jahre als »Der Lotterieschwede« ins Deutsche übertragen – war vom Naturalismus des späten 19. Jahrhunderts beeinflusst. Ein im Steinbruch arbeitender Schwede kauft sich ein Lotterielos, spricht aber dem Branntwein immer mehr zu, während seine Frau die Familie durchbringt. Nachdem er das Los als Einsatz beim Würfelspiel im Gasthaus verloren hat, fällt der große Gewinn auf eben dieses Los.
1894-96 reiste Andersen Nexø in den Süden und hielt sich längere Zeit in Italien und Spanien auf. Nach Dänemark zurückgekehrt, besuchte er einen Kurs an der Kopenhagener Lehrerhochschule, doch ab 1901 wurde er schließlich freischaffender Schriftsteller. Es entstanden die noch vor dem Ersten Weltkrieg von Emilie Stein ins Deutsche übersetzten »Bornholmer Novellen« sowie der vierteilige Roman »Pelle Erobreren« (1906-1910), der nach dem Weltkrieg in der Übersetzung von Mathilde Mann als »Pelle der Eroberer« in Deutschland bekannt wurde. Der Roman ist das erste Werk der westeuropäischen Literatur, in dem ein proletarischer Held realistisch gestaltet wird. Um der unerträglichen Not in Schweden zu entfliehen, versuchen der Vater und sein achtjähriger Sohn Pelle, auf Bornholm Arbeit zu finden. Aber auch hier sind sie nur Handlanger und Prügelknaben. Während der Vater unter den Demütigungen mehr und mehr zerfällt, entwickelt das Naturkind Pelle eine unbändige Kraft und Lebenslust. Er verlässt Bornholm, um das Glück zu suchen, das es irgendwo für ihn geben muss. Mit dem Roman »Pelle der Eroberer«, der nur wenig später als Gorkis »Mutter« erschien, hatte Andersen Nexø eine ergreifende Vater-Sohn-Geschichte geschaffen, in der er teilweise sein eigenes Leben beschrieb.
Ab 1910 unternahm Andersen Nexø längere Studienreisen nach Deutschland, und 1919 wurde er Mitbegründer der Kommunistischen Partei Dänemarks. Sein zweites Hauptwerk, der Roman »Ditte menneskebarn« (1917-21), erschien in der Übersetzung von Hermann Kiy zunächst unter dem Titel »Stine Menschenkind«, später als »Ditte Menschenkind«. Darin gestaltet Andersen Nexø den opferreichen Weg einer proletarischen Frau und ihre moralische Größe. Ditte, das Menschenkind, ein Mädchen aus armem Haus, geht seinen Weg durch die Düsternis des frühen Industriezeitalters. Ergreifend schildert der Autor ihr Schicksal, ihre unermüdliche Fürsorge und die nie versagende Opferbereitschaft. Ihr, der »Mutter der Menschheit«, wollte Andersen Nexø ein literarisches Denkmal setzen: »Die Erde wurde bereichert durch sie … Sie war bloß eine von den vielen Namenlosen – das Menschenkind, dessen Kennzeichen die stets rauen Hände sind.«
1922 reiste Andersen Nexø zum ersten Mal in die Sowjetunion und übersiedelte anschließend nach Allensbach am Bodensee, wo er bis zu seiner Rückkehr nach Dänemark 1930 wohnte. Im Mai 1933 verboten die Nazis seine Bücher in Deutschland. Nach der Besetzung Dänemarks durch deutsche Truppen wurde Andersen Nexö 1941 verhaftet, doch 1943 gelang ihm die Flucht über Schweden in die Sowjetunion. Nach Kriegsende kehrte er in seine Heimat zurück, wo bald darauf sein Roman »Morten hin røde« erschien, eine Fortsetzung zu »Pelle der Eroberer« und in der deutschen Übersetzung von Karl Schodder unter dem Titel »Morten der Rote« bekannt. In den Erlebnissen des proletarischen Schriftstellers Morten und seiner Frau Vera spiegelt sich die Geschichte der dänischen Arbeiterbewegung wider. 1951 erhielt Andersen Nexø den Nationalpreis der DDR für Kunst und Literatur, und er siedelte in die DDR über. Hier wohnte er mit seiner Familie bis zu seinem Tod am 1. Juni 1954 in einem Haus im Dresdner Stadtteil Weißer Hirsch. Vier Tage später, am 5. Juni, wurde er in Kopenhagen beigesetzt.
Mit seinen Romanen »Pelle der Eroberer« und »Ditte Menschenkind« schuf Andersen Nexø zeitlose Werke von weltliterarischem Rang. Trotz ihres oft agitatorischen Inhalts sind sie von einer tiefen Menschlichkeit geprägt. In kraftvoller Sprache gestaltet Andersen Nexø die Verelendung der Bauernschaft und die Entwicklung des jungen Proletariats. Während der Weimarer Republik gehörte Andersen Nexø zu den meistgelesenen sozialkritischen Autoren. Anfang der 1950er Jahre wurde er sogar für den Literatur-Nobelpreis nominiert, doch die Zeit der Arbeiterliteratur war vorbei. In der DDR dagegen genoss Andersen Nexø den Rang eines Klassikers. Emphatisch gelobt, wurde er Ehrenbürger der Städte Greifswald und Dresden. Zunächst erschienen seine Werke im Dietz Verlag, später im Aufbau-Verlag. Zuletzt jedoch nur noch als Digitalausgaben. Durch seine Nähe zum Kommunismus blieb er im Westen Deutschlands über viele Jahrzehnte hinweg ein nahezu unbekannter Autor; erst nach der Oscar-Verleihung 1989 und anderen Preisen für die Verfilmung von »Pelle der Eroberer« (mit Max von Sydow) stieß sein Werk hier auf ein gewisses Interesse.
Mit der politischen Wende 1989/90 wurde es jedoch ruhiger um den dänischen Autor. So wurde 1990 der Martin-Andersen-Nexø-Kunstpreis ein letztes Mal vergeben, und die Dresdner Nexø-Gedenkstätte schloss ihre Pforten. Einige Einrichtungen, unter anderem Schulen, tragen jedoch noch heute seinen Namen. So wird es am 26. Juni am Dresdner Martin-Andersen-Nexö-Gymnasium (allgemein unter dem Kürzel »MANOS« bekannt) eine Festveranstaltung zum 150. Geburtstag des Schriftstellers geben.