Im Ukraine-Krieg gilt der russische Präsident in der Öffentlichkeit als Terrorist, mit dem man nicht sprechen könne, auch das EU-Parlament bezeichnet Russland als Staat, der Terror unterstützt. Wir wissen, dass die USA lange schon Terror unterstützen und ausführen. Brzezinski erklärte in einem Interview mit le Nouvel Observateur 1998, die USA haben mit der Unterstützung der Mujahedin zum Untergang der Sowjetunion beigetragen. Die einseitige Schwarz-Weiß-Propaganda, der zufolge der Westen im Allgemeinen und die Nato im Besonderen der gute Sherif ist, der China und Russland im Osten in Schach hält, stimmt auch im Fall des Ukraine-Krieges nicht.
Die Aussage über eine russische Alleinschuld für die Katastrophe in Osteuropa klingt so plausibel, wie sie bei näherem Hinsehen unplausibel ist: Wie alle Kriege ist dieser nicht ohne seine Vorgeschichte zu verstehen, und ohne ein Verständnis der Vorgeschichte wird er auch nicht zu lösen sein. Wer sich nicht um ein solches Verständnis bemüht, wird allzu leicht der Idee verfallen, der Krieg sei Ergebnis der psychischen Disposition des Aggressors in Person des Präsidenten der Russischen Föderation. Und genau das ist Kern der Aussage von Bodo Ramelow, dies sei Putins Krieg, die selektiv von einem oberflächlichen Blick auf den 24. Februar 2022 geprägt ist. Dieser selektive Blick ersetzt Analyse durch emotionalisierende Bilder, mit denen Massenpsychologie ihre Wirkung entfalten kann, wie zum Beispiel: »Russland führt seinen Krieg auch in Deutschland an der Tankstelle, beim Strom- und Gaspreis und auch an jedem Montag hier in Thüringen.« Hier wird Analyse durch Personalisierung ersetzt, insofern der russische Präsident die deutsche Bevölkerung mit niederen Motiven treffen will.
Demgegenüber zeugt die Einschätzung des sozialdemokratischen Politikers Klaus von Dohnanyi von einer deutlich profunderen analytischen Tiefe, wenn er zur Kriegs-Verantwortung sag: »Für den Krieg ist nur Russland verantwortlich. Aber als die Bedrohung eines Krieges für die Menschen in der Ukraine wuchs, waren die USA nicht bereit, über die zentrale Frage, ob die Ukraine in die Nato kommt, auch nur zu verhandeln (…). In dieser Frage teile ich die Auffassung des heutigen Chefs der CIA, William Burns, der noch 2019 die Fortsetzung der Nato-Erweiterung im Wesentlichen für eine sinnlose Provokation hielt. Ich teile auch die Auffassung von Professor Jack Matlock, der als US-Botschafter in Moskau im Februar 1990 dabei war, als Außenminister James Baker Gorbatschow versprach, die Nato nicht über Deutschland hinaus zu erweitern.«
Passend dazu führt der Völkerrechtsexperte und Journalist Andreas Zumach aus: »Die bis dato rein westliche Militärallianz rechtfertigt(e) ihre bisherige sowie künftig geplante Ostausdehnung gerne mit ›legitimen Sicherheitsinteressen‹ ihrer Mitgliedsstaaten. Damit werden auch die militärischen Manöver der Nato in der Nähe zur russischen Grenze gerechtfertigt sowie die ständige Stationierung von 7.000 ›rotierenden‹ Nato-Soldaten in Polen und den drei baltischen Staaten. Russland wird der Anspruch auf ›legitime Sicherheitsinteressen‹ aber verwehrt. Zugleich machen sich die westlichen Staaten sehr unglaubwürdig, wenn sie zwar Russlands Bestrebungen zur Ausweitung seiner Einflusssphären kritisieren, aber die mit der Nato-Osterweiterung vollzogene Ausweitung ihrer eigenen Einflusssphären unterschlagen oder schönreden. Nur wenn die westlichen Staaten diese Haltung aufgeben, ihre Mitverantwortung für die Verschlechterung der Beziehungen zu Russland anerkennen und daraus auch praktische politische Konsequenzen für die künftige Gestaltung dieser Beziehungen ziehen, besteht eine Chance, für deren dauerhafte Verbesserung und damit für Stabilität und Kooperation auf dem gemeinsamen eurasischen Kontinent.«
Aus dieser Analyse schlussfolgerte Andreas Zumach in einem Vortrag in Essen am 16.10., dass der größte Anteil an der Eskalation der Spannungen im Vorfeld der Invasion russischer Truppen in die Ukraine auf Seiten der Nato liegt.
Die Nato-Propaganda verortet die Verantwortung durch das Ausblenden ihrer Expansions-Politik vor dem Krieg allein auf russischer Seite und gewinnt durch ihre regelmäßige Infiltration des Nachrichtenmanagements eine immer breitere Mehrheit der westlichen Öffentlichkeit, sogar bis in die Linkspartei hinein, was sich daran zeigt, dass auch Bodo Ramelow im November 2022 erklärte: »Früher war ich ein Gegner von Waffenlieferungen – heute sage ich ergänzend: Jeder, der angegriffen wird, hat das Recht, sich zu verteidigen.«
Zum Stimmungswandel gehört die Herabwürdigung des Pazifismus als naiv, durchtrieben, ideologisch, weltfremd, arrogant oder gleich sogar kriminell: Sascha Lobo greift zum Wort »Lumpen-Pazifisten«; nur Wolf Biermann, der den völkerrechtswidrigen Krieg der USA unter G.W. Bush gegen den Irak gut hieß, toppte das kürzlich in einem Zeit-Interview: Prominente Persönlichkeiten, die für schnelle Verhandlungen mit Russland und nicht für Waffenlieferungen an die Ukraine sind, de-legitimiert er: »Diese falschen Pazifisten halte ich für Secondhand-Kriegsverbrecher.«
Neben dieser Herabwürdigung von Menschen fällt auf, wie stark die doppelten Standards der Mainstream-Medien internalisiert wurden. Kein großes Medium stellt die Doppelmoral der Kriegspropaganda heraus: Die Militärs sind lange schon ein Risiko eingegangen, das niemand eingehen darf, und nun waschen sie ihre Hände in Unschuld, und sie verbinden das mit einer Gehirnwäsche in der öffentlichen Meinungsmache. Wie lange und wie konkret die Nato-Strategen diese unverantwortliche Strategie schon verfolgen, zeigen Dokumente: Das sogenannte Nato-Center of Excellence Joint Air Power Competence Centre (JAPCC) stellte bereits 2014 infrage, dass es keinen großen Krieg mehr in Europa geben werde, wie es in der Studie Future Vector Part I auf Seite 141 steht; auf Seite 70 empfahlen die Strategen in diesem Kontext einen »angemessenen Mix« nuklearer und konventioneller Fähigkeiten. In anderen Worten: Sie riskierten bewusst den Atomkrieg in Europa. Auf Seite 141 erklärten sie auch, wo er beginnen könne: Es waren die Gebiete unmittelbar westlich der russischen Westgrenze. Das sind die Gebiete, die in die Nato aufgenommen worden sind oder die dies anstreben.
Die Nato hat ohne größeres Aufsehen in der Öffentlichkeit im Mai 2014 die sogenannte Übergangsregierung Jazenjuks in Kiew auch darin beraten, was sie mit ihren Atomanlagen im Krieg macht. Es ging nicht darum, Krieg zu vermeiden, sondern die Nuklearreaktoren im Kriegsfall vor einem GAU zu bewahren; das kann unter Kriegsbedingungen niemand. Die Militärs gehen Risiken ein, die niemand eingehen darf. In der Konsequenz de-legitimieren sie die Friedensbewegung und manipulieren die Bevölkerung, um sie für ihr hochriskantes Risiko zu gewinnen. Das nennen die Nato und die Ampelregierung sowie große Teile der parlamentarischen Opposition Sicherheitspolitik. Das ist eine babylonische Sprachverdrehung. Eine Sicherheitspolitik liefert keine schweren Waffen in Kampfgebiete mit Atomanlagen, sondern sie hält die völkerrechtlichen Texte ein, die eine Friedensordnung der gemeinsamen Sicherheit verordnen, die die Sicherheitsinteressen eines jeden berücksichtigt. Das ist Sicherheitspolitik im 21. Jahrhundert. Auch und gerade angesichts der Kriege in mehreren Teilen der Welt.
Die Kriegslogik gefährdet nicht zuletzt die ökologische Vitalität des Lebensraums Erde. Die einzige Chance auf ein Überleben liegt in einer Beachtung des Völkerrechts im Rahmen einer Weltinnenpolitik, da die Zerstörung der Lebensgrundlagen vermeintlicher Gegner am Ende die eigenen Lebensgrundlagen zerstört. Die Sicherung des Lebensraumes Erde erfordert, dass jegliche Selbstbeweihräucherung sowie jegliche Schwarz-Weiß-Propaganda aufhört und durch Verhandlungen über zukunftsfähige Beziehungen zwischen den Teilen der Menschheit, die nur als ein Ganzes überlebensfähig ist, ersetzt wird. Das wäre dann Sicherheitspolitik. Auf der verletzlichen Erde des 21. Jahrhunderts gibt es Sicherheit nicht gegeneinander, sondern nur gemeinsam. Pazifismus ist dafür eine Basis.