Er gilt als einer der wichtigsten und streitbarsten Intellektuellen der Nachkriegszeit in Italien: der Filmregisseur, Dichter und Kritiker Pier Paolo Pasolini. Er gehörte zur Avantgarde der 1960er Jahre und erregte mehrfach Skandale mit seinen Filmen, von denen einige auch zeitweilig verboten wurden. Als kämpferischer Marxist und ketzerischer Katholik geriet der homosexuelle Künstler zwischen alle Seiten.
Pier Paolo Pasolini wird am 5. März 1922 in Bologna als Sohn eines Berufsoffiziers und einer Lehrerin geboren. Die Ehe der Eltern ist ziemlich zerrüttet, auch durch die häufigen Ortswechsel, hervorgerufen durch die militärische Karriere des Vaters. So verlebt der Junge eine unruhige Kindheit und Jugend mit häufigen Schulwechseln. Die Ferien verbringt er meist bei den Großeltern mütterlicherseits in Casarsa (Friaul), wo er das Landleben kennenlernt. Die ersten Gedichte, die während der Schulzeit entstehen, verfasst er in friaulischer Sprache – ebenso seinen ersten Gedichtband »Poesie a Casarsa« (1942). Danach beginnt Pasolini in Bologna ein Studium der Kunstgeschichte, das er aber bei Kriegsbeginn abbricht. Während des Krieges verdient er als Lehrer in Casarsa seinen Lebensunterhalt. Nach dem Krieg beendet er zunächst sein Studium, tritt der Kommunistischen Partei Italiens bei und findet eine Anstellung als Volksschullehrer. Nach Bekanntwerden seiner Homosexualität verliert er aber über Nacht seine Lehrerstelle, seine Parteizugehörigkeit und sein soziales Umfeld.
Mit seiner 59jährigen Mutter geht Pasolini nach Rom, wo er erst nach einem Jahr eine Stelle als Lehrer an einer privaten Mittelschule findet, die er jedoch 1953 wieder aufgibt. Inzwischen ist er in Kontakt zu den Cinecittà-Filmstudios im Südosten von Rom gekommen. Er findet hier seine »Berufung« und widmet sich fortan dem Kino. In den folgenden Jahren arbeitet er als Drehbuchautor mit verschiedenen Regisseuren zusammen. Neben weiteren Gedichtbänden erscheint 1955 mit »Ragazzi di vita« sein erster Roman. Der Debütroman über das Elend der Vorstädte und das Leben einer Gruppe von Halbstarken, die in den Slums herumstreunen, sich das Lebensnotwendigste zusammenstehlen oder sich prostituieren, schlägt im nachfaschistischen Italien wie eine Bombe ein. Unmittelbar nach Erscheinen des Romans wird gegen Pasolini ein Prozess wegen Obszönität angestrengt, in dem die Schriftstellerkollegen Alberto Moravia und Giuseppe Ungaretti seine Verteidigung übernehmen. Mit »Ragazzi di vita« und seinem nächsten Roman »Una vita violenta« (1959) ist aus dem jungen Dichter ein bekannter Romancier geworden.
Pasolinis anfängliche Begeisterung für den Film bleibt jedoch keineswegs Intermezzo, sein Erfolg als Schriftsteller ändert daran nichts. Ab 1960 entdeckt er mehr und mehr den Film als Ausdrucksmittel für seine sozialkritischen Aussagen, und so entstehen in den folgenden fünfzehn Jahren über zwanzig Spiel- und Dokumentarfilme, in denen er Regie führt – darunter solche Klassiker und Meilensteine der Filmgeschichte wie »Mamma Roma« (1962), »Medea« (1969, mit der Opernsängerin Maria Callas) oder »Il Decameron« (1971). Mit »Il vangelo secondo Matteo« (1964) adaptiert er das Matthäus-Evangelium. Mit minimalen Sets und einfachen Kameraeinstellungen schafft er eine Kunstfilm-Antwort auf Hollywoods monumentale Bibelepen.
Obwohl in diesen Jahren noch weitere Gedichtbände, Erzählungen und Romane entstehen, wird Pasolini weitgehend nur noch als Filmemacher wahrgenommen. So erscheinen die meisten Prosatexte aus dieser Zeit erst posthum. 1975 dreht er mit »Die 120 Tage von Sodom« seinen letzten Film, in dem er Material aus dem gleichnamigen fragmentarischen Roman des Marquis de Sade entnimmt. Wegen der sexuellen Ausschweifungen wird der Film in zahlreichen Ländern vorübergehend verboten. Kurz nach Ende der Dreharbeiten und noch vor der Uraufführung des Films wird Pier Paolo Pasolini am 2. November 1975 auf einem seiner für ihn typischen nächtlichen Streifzüge am Strand von Ostia ermordet. Bis heute sind die Umstände nicht geklärt.
Zum 100. Geburtstag des radikalen Künstlers und Visionärs ist im Suhrkamp Verlag unter dem Titel »Nach meinem Tod zu veröffentlichen« eine zweisprachige (ital./dt.) Ausgabe seiner späten Gedichte erschienen. Sie versammelt drei Gedichtbände aus der Rom-Zeit: im Wesentlichen die Gedichtbände »La religione del mio tempo« (»Die Religion meiner Zeit«) von 1961, »Poesie in forma di rosa« (»Dichtung in Form einer Rose«) von 1964 und das wuchtige Spätwerk »Trasumanar e organizzar« von 1971, das hier in Auszügen erstmals in deutscher Sprache vorliegt.
Dem Leser begegnet eine sprachmächtige Lyrik – häufig im Prosaton – sowohl mit autobiografischem Hintergrund als auch mit zeitkritischen Aspekten. Mit zahlreichen Gedichten begleitete Pasolini auch den Entstehungsprozess seiner Filme. So notiert er während der Dreharbeiten an »Mamma Roma«: »Ah, Bourgeoisie, ja, das heißt Scheinheiligkeit: doch ebenso Hass. Hass verlangt nach Opfern, und das Opfer ist eines allein. Das Licht ist spektakulär, los, los, nützen wir es aus, nur zu mit dem Fünfziger und Vorwärtsschwenk.« Die Gedichte sind aber auch Ausdruck einer Selbstverteidigung, denn zu Lebzeiten sah sich Pasolini 33 Prozessen wegen Religionsbeleidigung oder Obszönität ausgesetzt. Neben Begierde, Sehnsucht nach jungen Männern, Einsamkeit und Alter kommt in seinem Spätwerk auch seine immer noch linke Weltanschauung zum Ausdruck – wie in den »Marxistischen Gedichten« (1964-65): »Man kann sich von der Freiheit nicht befreien, / und was man ein einziges Mal für Freiheit gehalten hat, / bleibt Freiheit für immer. / Man kann nur träumen, im Traum. / Genug jetzt. Es ist Zeit für den Kommunismus.«
Die Herausgeberin und Übersetzerin Theresia Prammer gibt in ihrem Nachwort einen ausführlichen Überblick über die Entstehung und die persönlichen Hintergründe der Gedichte. Wie Pasolinis übriges Werk sind sie kritisch, provokant und häufig desillusionierend. Dank der Ausgabe liegen nun nach den frühen Gedichten und den Romanen auch Pasolinis späte Gedichte vor. Sie werden dadurch – zumindest für die deutsche Leserschaft – erstmals sichtbar. Abschließend soll nicht unerwähnt bleiben, dass der Wagenbach Verlag das Pasolini-Jubiläum ebenfalls mit drei Neuerscheinungen würdigt. Der im Dezember verstorbene Verleger Klaus Wagenbach hatte Pasolini seit Ende der 1970er Jahre als einer der Ersten ins Deutsche geholt.
Pier Paolo Pasolini: Nach meinem Tod zu veröffentlichen – Späte Gedichte, zweisprachig, Suhrkamp Verlag, Berlin 2021, 640 S., 42 Euro.